Philipper 3, 7-14
Philipper 3, 7-14
7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.
8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne
9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben.
10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden,
11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
12 Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.
13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist,
14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Liebe Gemeinde,
das ist ein krasser Abschnitt aus dem Philipperbrief. Paulus spricht in einer Weise über sein Leben, das mir der Atem stockt. Er benutzt Vokabeln, über die ich stolpere und dich mich genau hinhören lassen.
„Ich erachte als Dreck, was ich früher getan habe“. „Was ich als Gewinn angesehen habe, war ein Schaden!“
Häufig, wenn ich in Briefen von Paulus lese, hadere ich zunächst. Der Mann hatte echte „issues“ und ich frage mich manchmal, ob es gut ist, dass er so eine große Bedeutung bekommen hat. Heute würde man ihm sicher narzisstische Züge attestieren. Ein bisschen Fanatismus kommt hinzu. Zudem ist er ein sehr gebildeter und kluger Mann und in autoritären Strukturen groß geworden. Widerspruch war nicht vorgesehen. Das ist eine explosive Mischung.
Während ich so hadere und ich über meine Zweifel an Paulus, dieser zweifelhaften Gestalt habe, denke ich, was würde ich machen, wenn Paulus zu mir käme und mich um ein Seelsorgegespräch bitten würde.
Ja, ich würde mich mit ihm verabreden und dann würde ich seine grobe Sprache erstmal aushalten und hinhören und mich fragen: was hat dieser Mann erlebt, dass er so heftige Ausdrücke benutzt? Was muss geschehen, wenn jemand sein bisheriges Leben als „Dreck“ bezeichnet? Was ist das los, wenn jemand an seinem bisherigen Leben wenig liebgewinnen kann, stattdessen den Eindruck hat: was mir bisher etwas bedeutete, ist mir nicht mehr wichtig.
Ja, ich würde mich auf eine Begegnung mit Paulus einrichten und ihm zuhören.
Als Paulus seinen Brief schreibt, sitzt er vermutlich im Gefängnis. Er weiß nicht, was mit ihm geschehen wird. Er hat sicher Angst und stellt sich darauf ein, dass sein Leben gefährdet ist. Paulus kennt die Römer gut genug, um einzuschätzen, dass Gnade für sie ein Fremdwort ist.
Als dieser Brief von Paulus in unsere Bibel aufgenommen wurde, da wusste man: Paulus ist hilflos gestorben: entweder als Märtyrer 60 nach Christus unter der Verfolgung Neros oder er ist 64 nach Christus als Rom brannte während des Brandes, zusammen mit vielen weiteren Christen gestorben.
Sein Glaube hat ihn sein Leben gekostet – Und sein Glaube hat vielen anderen ihr Leben gekostet. Während Paulus also im Gefängnis sitzt, wird er nachdenken und betrachtet sein Leben – unweigerlich. Keine gemütliche Betrachtung unter seelsorgerlicher Begleitung. Sondern Paulus ist den Römern und sich selbst ausgeliefert.
So denkt er über seinen Glauben, seine Werte, was ihm kostbar und wichtig ist.
Hier geht es um eine innerliche Auseinandersetzung eines Mannes in Lebensgefahr – dies ist keine dogmatische Abhandlung, kein theologisches Essay wie einige Passagen des Römerbriefes.
Hier geht es um Wesentliches, um seine geistliche Existenz.
Und dieses unsichere Leben, seine Gefangenschaft ist eingebettet in eine Zeit, in der die Welt, in der er lebte, unsicher und gefährlich war. Es war eine Zeit, die von Macht und Gewalt geprägt wahr. Eine Zeit, in der Die Römer sich als unbesiegbar verstanden und die Welt eroberten.
Und er ist mittendrin.
Und da, ziemlich am Ende und in dieser prekären Situation fragt er: „Liebe Geschwister, ich weiß nicht, ob ich gut verstanden habe, worum es im Leben geht“.
Das ist mutig. Das Paulus sich so öffnet und diese Gedanken nicht für sich behält. Überraschend, dass dieser Mann, der so grobe Vokabeln benutzt, damit etwas aus seiner wunden Seele mitteilt.
Denn bitterer kann eine Einsicht wohl nicht sein: „Ich habe mich womöglich getäuscht!“
Stellt euch vor, am Ende eures Berufslebens habt ihr den Eindruck: „War es das wirklich wert?“ Stellt euch vor, jemand bekommt eine Diagnose, die tödlich verlaufen wird und dieser Mensch fragt sich dann zusätzlich: „War das ok, wie ich gelebt habe?“ Und er fragt nicht nur, sondern hadert und zweifelt und steht unter dem Eindruck: „Alles war umsonst!“
Da höre ich noch genauer hin und ich spüre eine große Empathie gegenüber Paulus, den ich ja anfangs vor allem ins Wort fallen und widersprechen wollte.
Der Mann, der so viel wusste, so viele Gemeinden gegründet hat, Menschen Rat gegeben hat. Der Mann, der eine große Leitungsfunktion hatte, sagt am Ende: ich bin nicht sicher, dass ich alles gut verstanden habe.
Dann wieder staune ich, wie Paulus aus diesen schweren Gedanken hinausfindet. Als er so zweifelt, da besinnt er sich auf eine Zeit in seinem Leben, in der er schon mal so gewesen ist. Eine andere Krise, die er bewältigt hat und die ihm nun den Weg weist.
Ihr kennt alle die Geschichte seiner großen Veränderung.
Auf dem Weg nach Damaskus wurde er von Jesus unterbrochen. So hat Paulus es erlebt.
Und dann wurde aus dem Saulus ein Paulus. Aus dem Christenverfolger wurde ein Leiter der christlichen Kirche, ein großer Apostel.
Paulus besinnt sich in seinem tiefen Zweifel und seiner schmerzhaften Einsicht, dass er nicht gut verstanden hat, was wichtig ist auf Jesus Christus.
In seinem Leben ist nichts mehr sicher – nur eines bleibt gewiss: Jesus Christus.
Hier wird es meiner Meinung nach für uns, als seine späten Zuhörer und Zuhörerinnen sehr bedeutsam. Mutig, wer den Gedanken und die Erfahrung zulassen kann: Nichts ist sicher in meinem Leben. Das tut weh. Zu erkennen, dass einem alles abhandenkommen kann, ist ein Angriff auf die Seele. Bis vor drei Wochen nichts gemerkt, und nun eine schwere Krebsdiagnose. Bis vor wenigen Wochen glücklich und zufrieden und nun ein Schicksalsschlag: ein Unfall oder Opfer einer Gewalttat.
Nichts ist sicher. Paulus erfährt es. Es wundert mich nun nicht mehr so, wie grob die Sprache ist: „Dreck!“ Paulus ist wütend und traurig und voller Angst und aus der Bahn geworfen.
Wir Menschen sehnen uns nach Sicherheit und wir sind bereit für Sicherheit viel zu investieren.
Gerade in Südafrika wünschen wir uns so viel mehr Sicherheit. „Ach, wenn das Wohnen in unseren Häusern doch sicher wäre!“ „Ach, wenn mein Arbeitsplatz doch sicher wäre!“ „Ach, wenn es doch sicher wäre, dass meine Kinder ein gutes Leben haben!“
„Wenn doch sicher wäre, dass ich bis ins hohe Alter gesund bin!“
Der Wunsch nach Sicherheit ist groß und unsere Erfahrung ist: es gibt keine oder kaum Sicherheit.
Darum geht es eigentlich in diesem Text. Paulus ist ein Mann in tiefer Not, im Gefängnis. Ein Mann, der ahnt, dass sein Leben schneller und grausamer beendet werden kann, als er sich das gewünscht hat.
Und in diesem Moment, in dieser unfassbaren Unsicherheit, die einen Menschen völlig aus der Bahn werfen kann, in dieser Unsicherheit hat er die Kraft, sich auf das zu besinnen, was keine Sicherheit schafft, aber Gewissheit.
Ich zitiere Paulus:
10Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, 11damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.12Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“
Paulus weiß sich noch in seiner Not eingebettet in die Geschichte Jesu. Und da sind Gedanken, Worte, Gebete, Psalmen, die ihm da im Gefängnis einfallen. Wortfetzen. Worte, die ihn herausfordern. An diesen Worten hält er sich womöglich fest und wird so, rausgezogen. Gott reicht ihm Worte und Gedanken.
Mitten in der Angst identifiziert Paulus sich mit Jesus und findet in der Betrachtung des Lebens und Leidens Jesu eine Kraftquelle. Was er theoretisch, als Schriftgelehrter geschrieben hat, wird nun wahr für ihn.
Er findet darin keine Sicherheit. Sein Glaube in und an Jesus Christus macht sein Leben kein bisschen einfacher und doch viel erträglicher, doch er ruht in einer Gewissheit.
Das ist schwer zu verstehen. Und ich kann nur sagen: wohl dem, der von solchen Erfahrungen der völligen Unsicherheit verschont bleibt. Wohl dem, der nicht in Situationen kommt, in denen Gewalt so nah und der Tod so greifbar ist. Wohl dem!
Wohl dem, der in dieser Textstelle nicht eine theoretische Abhandlung sieht, sondern ein Bekenntnis eines Menschen in tiefer Not: in tiefer Not und doch geborgen in Gott.
Das kann und wird nur der oder die verstehen, die es selbst erlebt haben. Die es erlebt haben, sollten mutig davon reden.
Ich habe selbst erlebt, wie so ein Zeugnis anderen hilft, im Glauben zu wachsen.
In meiner ehemaligen Gemeinde, in Leopoldshöhe bin ich einer Frau begegnet, die inzwischen 97 Jahre alt ist. Sie war also 83 Jahre alt, als ich sie kennengelernt habe. Eine zierliche, schlanke Frau, mit klarem Verstand, zäh und überzeugt.
Eine sehr fromme Frau. Wollten wir sie in eine Schublade stecken, stände „evangelikal“ darauf. Aber ich glaube, der Begriff ist ihr fremd.
Ihre Wohnung erinnert an vergangenen Zeiten: kein Elektroherd, sondern ein Holzofen. Keine Zentralheizung, sondern ein Ölofen. Die Möbel sind alt.
Sie trägt meistens einen Kittel, so wie ich es von den alten Frauen aus meiner Kindheit kenne. Irgendwie ist diese Frau aus der Zeit gefallen. Vor der Haustür ihr Gemüsegarten. Und ein Blumenbeet.
Wann immer ich sie getroffen habe, sagte sie: „Frau Schauf, das wichtigste ist unser Herr, Jesus“.
Ich lächelte, wenn sie das sagte und spürte Widerstand. Doch irgendetwas lies mich schweigen und freundlich „nicken!“
Als ich sie dann zum ersten Mal besuchte, erzählte sie aus ihrem Leben: Als sie Ende 30 war, und drei kleine Töchter hatte, starb ihr Mann unerwartet an einem Herzanfall. Er war jung. Er ging nachts ins Badezimmer und fiel tot um.
Da war keine Lebensversicherung. Da war kein Geld. Kein Erspartes.
Diese Frau hat es geschafft, ihre Töchter zu erziehen. Sie haben alle einen Beruf erlernt und leben ein zufriedenes einfaches und glückliches Leben. Da sind zwei Schwiegersöhne und Enkelinnen.
Ich fragte sie, wie haben Sie das geschafft. Sie antwortete: „Frau Schauf, ich habe mich an meinen Konfirmationsspruch erinnert: „Dennoch bleibe ich stets bei dir“. Und Jesus hat mir jeden Tag Kraft gegeben!“
Ein Glaubenszeugnis. Diese Frau, in ihrem von außen betrachtet recht schlichten, einfachen Leben ist mir eine Kraftquelle geworden – ein lebendiger Buchstabe, ein lebendiges Wort Gottes.
Es ist ein Privileg solchen Menschen zu begegnen. Paulus und alten Zeugen und Zeitzeugen, die davon erzählen, wie ihr Leben eine Wende genommen hat. Ja, mein Verstand hat Fragen. Meine Vernunft geht in den Widerspruch. Mein Herz sagt: danke für so eine Gewissheit.
Paulus lesen, ist für mich ähnlich. An manche seiner Gedanken habe ich große Anfragen und allerlei Kritik. Doch seine Gewissheit in der Not in Jesus Christus geborgen zu sein – ist mir eine Kraftquelle.
Nein, ich habe auch Vieles im Leben nicht verstanden, doch die Erfahrung teile ich: wohl dem, der von sich sagen kann: Gott hat mich gefunden. Dennoch bleibe ich stets bei ihm.
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

