(Liedpredigt zu EG 508 „Alle guten Gaben“)
Liebe Gemeinde,
Das Musical der Kinder führt es uns vor Augen, was für ein Wunder wir eigentlich feiern, wenn wir Erntedank feiern. Das Wunder, dass es so etwas wie Leben und Wachstum gibt. Das Wunder, das wir uns das nicht selbst verdanken, sondern Gott. Und vielleicht auch unser Erstaunen darüber, wie leichtfertig wie über diese Grundlage unseres Lebens hinweg gehen. Gar nicht böswillig oder übermutig, sondern weil eben gerade anderes wichtiger ist. Sowie bei den Kinder in unserem Musical. Manchmal brauchen wir einen zweiten, einen tieferen Blick, der uns das Selbstverständliche nicht als selbstverständlich erkennen lässt. Genau das feiern wir auch Erntedank – das Wunder des Lebens, das uns geschenkt wird und in dem Gott uns im Auf und Ab hält und trägt. Die Gaben der Ernte sind die sprechenden Bilder dafür, aber nicht nur sie.
Für mich und viele von euch gehört auch jenes Lied dazu, das auf Matthias Claudius zurückgeht und das wir eben gesungen haben.
„Bauernlied“ – so hat Matthias Claudius sein Gedicht genannt. Schlicht wie die Worte ist auch die Botschaft. Es gehört zu einer Novelle: „Paul Erdmanns Fest“. Die erzählt von Erdmanns 50 jährigem Jubiläum als Bauer. Viele Gäste sind versammelt. Da sind vornehme Edelleute, die vom Geist der Aufklärung angesteckt sind. Sie diskutieren mit dem Claudius-Freund Asmus über Religion und Politik, und sie spötteln, als Paul Erdmann ein Tischgebet spricht: „In Frankreich betet man niemals zum lieben Gott.“
Und da sind die Bauern aus der Nachbarschaft. Die sind auch zu Paul Erdmanns Fest erschienen. Die wissen noch etwas vom Segen. Diese Bauern lässt Matthias Claudius singen: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn.“ So protestieren sie gegen die aufgeklärten Edelherren und menschliche Allmachtsphantasien, dass alles machbar sei! Sie wissen es besser, aus Erfahrung. Auf dem Acker, hinter dem Pflug, mit der Sense in der Hand haben sie es erfahren: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem
Herrn.“
Dieses Bekenntnis entfaltet Claudius in seinem „Bauernlied“ mit zarten Bildern: Da tut sich der Himmel auf und träuft, wenn die Bauern heimgehen, Wuchs und Gedeihen drauf. Gott wickelt seinen Segen kunstvoll ein, wie ein Geschenk eingewickelt wird, damit es doppelt schön ist und überrascht und erfreut. Gott bringt den Segen behände und unbemerkt in Feld und Brot. Gottes Segen geschieht unendlich leise, fast unbemerkt, aber er geschieht! Er „geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.“
Ist diese schlichte Bauerntheologie heute noch singbar und sagbar? Wenn man sich hineinliest in sein Leben, merkt man: Dieses Gottvertrauen ist nicht aus dem Ärmel geschüttelt. Das ist erkämpft, hindurchgekämpft durch Traurigkeit und Tod. Bitter hindurch gekämpft, z.B. beim Sterben seines Lieblingsbruders Josias. Ein Jahr älter war er, sein Lieblingsbruder, Gefährte seiner Kinderjahre: Gemeinsam gespielt, gemeinsam herum gestrolcht, gemeinsame Kinderstreiche, gemeinsam gelernt.
Gemeinsam gehen sie nach Jena zum Studieren. Beide werden krank dort, todkrank: Pocken. Matthias wird wieder gesund, aber er muss mit ansehen, wie sein Bruder Josias, 21 Jahre alt, elend zugrunde geht und stirbt.
„Alle gute Gabe – von Gott dem Herrn“? Und der Tod? Kommt der auch von Gott? Matthias schreibt eine Trauerrede für seinen toten Bruder: „Ob und wieweit Gott den Tod der Menschen bestimme“.
„Du musstest sterben, Josias, so beschloss es der Ewige? Nein, nimmermehr hat der mir meinen Bruder genommen; geben konnte er ihn mir wohl, aber er ist zu gut (...), ihn meinen brüderlichen Armen wieder zu entreißen.“ Wenn Gott für diesen Tod verantwortlich wäre, „würden wir diesen Herrn nicht einen Unmenschen, einen Tyrannen schelten, und mit Abscheu und Verachtung seinen Namen nennen?“
Der Tod im Alter – ja, das könne von Gott im Menschen so angelegt sein, dass am Ende die Lebenssäfte und -kräfte langsam schwinden. Aber der Tod – mitten im Leben? Zudem fast immer von Menschen verursacht?
„Nein, Gott, nein, du bestimmtest diesen Tod nicht. Nein, du bist väterlich gegen mich gesinnt, und wenn es möglich wäre, dass ein GOTT weinen könnte, du weintest, ja du weintest eine mitleidige Träne.“
„Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn“? Das sind nicht aus dem Ärmel geschüttelte fromme Verslein. Das ist erkämpft.
Gottes Leitung im Auf und Ab des Lebens – auch das thematisiert Erntedank. Aber wie kriegt man das zusammen? Claudius Gedicht ist länger, als es in unserem Gesangbuch steht. Eine der unbekannten Strophen werden wir gleich singen.
Sie spricht wieder vom Schnee und Ungestüm, von den Lagen, diesmal Gemütslagen, die uns nicht willkommen sind, die aber manchmal für den Empfang des Segens unverzichtbar sind:
Er gehet ungesehen
Im Dorfe um und wacht,
Und rührt die herzlich flehen
Im Schlafe an bei Nacht.
Genauso heimlich, wie der Segen in Tau und Regen eingewickelt wurde, genauso heimlich geht Gott nun nachts durch das Dorf. Er ist unsichtbar. Aber er wacht. Er ist da und Aufnahme bereit. Und wenn er jemanden herzlich flehen hört, dann bleibt er stehen. Und erst wenn derjenige schläft, rührt er ihn an. Diese Abende, in denen man unruhig ist und nicht einschlafen kann, von Sorgen geplagt wird, und dann am nächsten Morgen, sieht die Welt plötzlich anders aus, hat Gott einen offenbar sanft berührt.
Dem folgt dann das Gotteslob:
Darum, so woll'n wir loben,
Und loben immerdar
Den großen Geber oben.
Er ists! und Er ists gar!
Gott ist der große Geber droben. Er ist es und er ist es ganz. Das heißt: Allen Segen, den wir sehen und spüren, alle guten Gaben kommen von Gott. Und der zweite Satz: Auch alles andere kommt von Gott. Schnee und Ungestüm und das leise flehen bei Nacht. Die schmerzlichen Momente im Leben, auch sie kommen vom großen Geber aller Gaben. Die ganze Welt liegt in seinen Händen, ruht und regt sich unter dem Gewölbe des Himmels, der Sonne, Tau und Regen gibt. Und der uns manchmal ungesehen anrührt, mitten im Schlaf.
Amen.