(Predigttext: Röm. 3, 21-28)
21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.
22 Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.
Denn es ist hier kein Unterschied:
23 Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen,
24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
25 Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden
26 in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.
27 Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.
28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben
Liebe Gemeinde,
heute, am Reformationsfest, geht es in besonderer Weise um das Wort. Denn darin liegt die Quelle der Reformation, wie Luther sie angestoßen hat: in der Beschäftigung mit der Bibel, mit den Worten Gottes, die darin für uns überliefert sind. Gut ist es deshalb auch, dass an diesem Tag überall auf der Welt eine neue Überarbeitung der Lutherbibel eingeführt wird. Auch das erinnert uns an die Ursprünge, die auch heute noch Quelle für unser Leben sein können. Und gut ist es auch, dass diese Quelle nun unter dem Kreuz in Gestalt einer Altarbibel sichtbar ist.
Unscheinbar hat es ja begonnen: Eine Universität weit draußen an den Grenzen Deutschlands, erst wenige Jahre alt, sicher kein Anziehungspunkt für junge Studenten und auch für Gelehrte – das war Wittenberg in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts. An der Theologischen Fakultät gab es vielleicht begabte, aber kaum bekannte Professoren. Einige von ihnen waren noch sehr jung, darunter jener Martin Luther, der seit 1512 die biblischen Schriften auszulegen hatte. Probleme der Schriftauslegung freilich nimmt er sehr genau. Er tut das nicht nur aus wissenschaftlicher Leidenschaft, sondern auch weil ihn das, was er dort treibt, im Tiefsten bewegt und berührt. Es ist nicht die Frage nach Gott an sich, sondern die nach der Gerechtigkeit Gottes. Wie kann ich als sündiger Mensch vor Gott bestehen, vor Gott auch nur annähernd gerechtfertigt und angenommen sein? Diese Frage bewegte Luther aufs Tiefste. Seine große reformatorische Einsicht gewann er so nicht erst im Kampf mit der Papstkirche von Rom, sondern in seiner Gelehrtenstube in Wittenberg, bei der Auslegung des Römerbriefes, aus dem wir eben gehört haben. Wie werde ich vor Gott gerecht und was meint Gottes Gerechtigkeit?
Für Luther war diese Frage mit großen inneren Qualen verbunden. Er hat im Rückblick von nur wenigen Jahren dieses Erleben durchaus autobiographisch in die 2. und 3. Strophe des Liedes 341 fassen können.
Dem Teufel ich gefangen lag,
im Tod war ich verloren,
mein Sünd mich quälte Nacht und Tag,
darin ich war geboren.
Ich fiel auch immer tiefer drein,
es war kein Guts am Leben mein,
die Sünd hatt' mich besessen.
3. Mein guten Werk, die galten nicht,
es war mit ihn' verdorben;
der frei Will haßte Gotts Gericht,
er war zum Gutn erstorben;
die Angst mich zu verzweifeln trieb,
daß nichts denn Sterben bei mir blieb,
zur Höllen mußt ich sinken.
Für Luther war diese scheinbar theologische Frage zugleich zutiefst existentiell. Gerechtigkeit Gottes, das war Luthers schwer errungene Einsicht, misst sich nicht nach Lohn und Strafe. Gerechtigkeit Gottes, das meint: die Gerechtigkeit, die als ein Geschenk Gottes den Menschen kraft des Glaubens gerecht macht und ewiges Leben mitten in der Zeit aufschließt. Diese neue, große Einsicht, so erinnert er sich noch 30 Jahre später, sei für ihn so etwas wie eine Neugeburt gewesen: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von Neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten“, so seine eigenen Worte. Es ist der Glaube allein, nicht meine Werke und mein, Tun, die vor Gott Bestand haben und mich vor ihm gerecht machen, rechtfertigen, das war Luthers am Römerbrief gewonnene Einsicht, die dann seinen weiteren Weg im bald ausbrechenden Konflikt um den Ablass bestimmen sollten. Diese Einsicht stand vor all den Konflikten, wie sie auch im vergangenen Jahr der Lutherfilm so schön in Szene gesetzt hat, sie war der Grund und die Kraftquelle, die dann folgte. Diese Einsicht ist es, die die Reformation erst möglich gemacht hat – in einer kleinen, unscheinbaren Studierstube am Rande der zivilisierten Welt.
„Unter uns gesagt“, so beurteilte dann ein anderer Großer Luthers Tat, „an der ganzen Sache ist nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das einzige, was der Menge eigentlich imponiert. Alles andere ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.“ Respekt vor der historischen Leistung Luthers, vor seiner Standhaftigkeit, vielleicht auch noch vor seiner Berufung auf das Gewissen, wie vor dem Reichstag in Worms, das ist in diesen Worten des alten Goethe das bleibende an Luther.
Alles andere aber „verworrener Quark“ – heißt das nicht auch, dass damit auch Luthers Einsicht in die liebende Güte Gottes, die er mit dem Begriff der Rechtfertigung umschrieben hat, bedeutungslos geworden ist? Wen bewegt heute denn noch die Frage nach einem gnädigen Gott? Gott steht doch vielen Menschen selbst in Frage. Und nicht nach Schuld und Erlösung fragen sie, sondern allenfalls nach Sinn.
Und doch ist zu fragen, ob mit der weithin zu beobachtenden Verabschiedung der Frage nach dem gnädigen Gott, das was Luther bewegte, nämlich die Frage nach der Rechtfertigung unseres Handeln und Tuns wirklich auch aus der Welt verschwunden ist. Denn unser Bedürfnis nach Rechtfertigung ist ungebrochen, ja hat sich in einer Zeit großer Freiheit und Selbstverantwortung noch gesteigert. Ständig rechtfertigen wir uns, müssen und wollen wir uns in einer bestimmten Weise präsentierten oder darstellen, versuchen wir, vor anderen einen guten Eindruck zu hinterlassen. Nicht nur in der Schule, sondern auch in Ausbildung und im Beruf haben wir Prüfungen abzuleisten, die mit einer Note bewertet werden. Wir erzählen die Geschichte unseres
Lebens, um uns mitzuteilen und darzustellen: Mal sind es kurze Erlebnisse, mal Heldengeschichten, und manchmal geht es auch um Leid und Verletzungen. Wir versuchen zu imponieren und uns in einem guten Licht darzustellen. Wir wollen wissend und geschickt erscheinen, auch schlagfertig und tolle Typen sein, nicht nur als pubertierende Jugendliche auf dem Schulhof oder im Konfirmandenunterricht. Wir bewerben uns um eine Arbeitsstelle und belegen unsere Leistung und Können durch Zeugnisse und Qualifikationen, versuchen aber im Gespräch auch als Person einen guten Eindruck zu lassen. Wir bemühen uns um eine gute und angesehene Stellung auch im Kreis unserer Familie und Freunde. Die Anerkennung und Liebe unserer
Nächsten ist uns wichtig. Immer wieder entwerfen wir Bilder von und Erzählen aus der Geschichte unseres Lebens. Wir entwerfen Bilder, die mehr sein wollen als eine Aneinanderkettung von zufälligen Ereignissen und Erfahrungen. Wir bringen sie in eine Reihenfolge und Gewichtung, die uns selbst darstellt, die unser Leben ist, die wir sind. Und diesen Geschichten, die wir dann in den unterschiedlichsten Situationen erzählen und darstellen, mal mehr mit dem Gewicht auf dem einen, dann auf dem anderen, diesen Geschichten liegt immer ein Zug der Selbstverteidigung und der Rechtfertigung zu Grunde. Wer bin ich eigentlich, was habe ich aus meinem Leben gemacht? Auch, wie stellt es sich anderen dar und wie möchte ich gesehen werden?
Diesen Erzählungen liegt nicht nur der Wunsch, ja der Zwang nach einer Rechtfertigung zugrunde. Diese Erzählungen sind auch ein Wunschbild dessen, was wir gerne sein wollen – und doch nur unvollkommen sind. Mit unseren lebensgeschichtlichen Erzählungen geben wir etwas von uns preis, wer wir sind, warum wir so sind wie wir sind, und auch warum wir so und nicht anders geworden sind.
Insofern gehört Rechtfertigung zu einer der zentralen Erfahrungen unseres Lebens: im Kindergarten und in der Schule, in der Ausbildung und im Beruf.
Bin ich gerechtfertigt, was mache ich aus meinem Leben, welchen Sinn gebe ich ihm: das ist vielleicht die moderne Version von Luthers Frage nach dem gnädigen Gott. Wie gehe ich mit den ganz unterschiedlichen Rollen, Erwartungen und Ansprüchen, um die täglich neu an mich herantreten und denen ich nicht ausweichen kann? Ansprüchen, die mich manchmal mit Stolz und Freunde erfüllen, aber auch zur Verzweiflung bringen können. Und doch frage ich mich dann manchmal, was macht eigentlich den Sinn und Wert meines Lebens neben all den Geschichten aus, die ich von mir erzähle, den Bildern, die ich von mir entwerfe. Denn ich weiß doch auch um die Schwächen und die Täuschungen, die sich in ihnen verwerfe, weiß doch auch darum, auf welch wankendem Grund mein Leben manchmal zu stehen scheint? Ist das alles was mich ausmacht? Muss ich mich nicht ständig selbst rechtfertigen und entwerfen? Weiß ich nicht auch um die Erfahrungen, in den ich mein Leben nicht in der Hand habe, Erfahrungen des Verzichts und der Entfremdung, des Unvermögens und des Leides? Auch das ist eine moderne Fassung von Luthers Frage nach dem gnädigen Gott.
Luthers an Paulus gewonnen Einsicht in die grundlose Gnade Gottes: sie ist die Einsicht, dass ich mich nicht endlos selbst rechtfertigen muss, dass ich nicht ich es bin, der meine Erlösung in der Hand hat, dass nicht ich das Gelingen meines Lebens restlos in der Hand habe. Luthers Einsicht erinnert uns daran, dass das Gelingen unseres Lebens letztlich nicht in unserer Hand liegt, sondern Gnadengeschenk Gottes ist. Sie erinnert und daran, dass uns vor Gott ein Wert zukommt, den kein Mensch zerstören kann – ein Wert, der uns freimacht unsere Leben in christlicher Glaubensgewissheit zu führen. Luther Einsicht erinnert uns an unseren Lebensgrund in und aus Gott, so dass wir uns unsere Lebensgeschichten erzählen können in der freien und gelassenen Gewissheit, bei Gott schon angenommen zu sein. Seine Verzweiflung und seine Angst, vor Gott nicht bestehen zu können: „mein Sünde mich quälte Nacht und Tag“ und dann doch diese Erfahrung des unbedingten Angenommenseins in der Begegnung mit der Gestalt Jesu, der Gott aus reinem Erbarmen und wegen seines väterlichen Herzens zu sendet, wie es in der 4. Strophe heißt. In Christus zeigt sich diese Liebe Gottes: „Denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, das sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden.“
Genau das, was Luther in diesem Lied gedichtet hat, das macht Glauben aus: sich inmitten der Fragmente des eigenen Lebens, der Unzulänglichkeiten wie der eigenen Stärken, seiner guten Verheißung auch gegen alle Widerstände zu vertrauen. Das kann durch Anfechtungen und Zweifel, die zu Glauben notwendig dazu gehören führen. Grandios ist das im Lutherfilm in der Szene vor Worms umgesetzt: Luther im Kampf mit dem Teufel vertraut sich Christus an und ruft: Ich bin dein, erlöse mich! Und empfängt aus diesem Vertrauen die Kraft, dann sich auf seine Gewissen zu berufen und vor Kaiser und Reich seine Schriften gerade nicht zu widerrufen.
Reformationsfest, das ist so verstanden ein Fest gegen die Angst, sich ständig selbst neu rechtfertigen zu müssen, ein Fest der Freiheit, ein Fest, das darauf weist, immer neue Gemeinde Christi zu bauen.
Lassen Sie uns heute und in Zukunft so Gemeinde bauen. Nicht um ihrer selbst willen, sondern damit die Botschaft von der Rechtfertigung durch Gott, an die uns die Reformation immer neu erinnert, möglichst viele Menschen erreicht. Auf dass wir zu glaubwürdigen Zeugen Christi werden, der mit den Worten des Lutherliedes zu uns spricht:
Er sprach zu mir: »Halt dich an mich,
es soll dir jetzt gelingen;
ich geb mich selber ganz für dich,
da will ich für dich ringen;
denn ich bin dein und du bist mein,
und wo ich bleib, da sollst du sein.
Amen!