2017-01-15 - 2. Sonntag nach Epiphanias - Pastor Dr. Christian Nottmeier

(Predigttext: Matthäus 4, 13-17)


12 Da nun Jesus hörte, dass Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück.

13 Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am Galiläischen Meer liegt im Gebiet von Sebulon und Naftali,

14 auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht (Jesaja 8,23; 9,1):

15 »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden,

16 das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.«

17 Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!


Liebe Gemeinde!


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unendlich nennen?“ Mit diesen Worten beginnt Thomas Mann seinen Roman „Joseph und seine Brüder“, in dem er die biblische Geschichte von Jakob und Joseph verarbeitet. Der Brunnen, in den er hinabtaucht, erweist sich letztlich unserer Gegenwart ganz nah. Denn dazu erzählen wir Geschichten, dass wir uns in ihnen wiederfinden, auch im Unterschied der Orte und Zeiten. Manns Vorstellung war, dass sich im Segensbetrug Jakobs, in seiner Flucht in die Fremde, im Streit und Verrat seiner Söhne und schließlich im Weg Josephs Grundprägungen und existentielle Befindlichkeiten unseres Menschseins wiederfinden. Was früher war, kann auch heute noch bedeutsam sein, reicht hinein in unsere Gegenwart, mit Licht und mit Schatten. Auch, wenn es zunächst nur an den Rändern und Grenzen unserer Existenz aufscheinen mag.


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ Zu Weihnachten haben wir versucht, Wasser aus diesem Brunnen zu schöpfen. Wir haben die alten Geschichten gehört, die Lieder gesungen, uns an frühere Weihnachten erinnert, mit der Familie oder Freunden besinnlich wie fröhlich gefeiert. Wir tun das auch, um Kraft zu gewinnen für den Alltag, der uns jetzt bald wieder im Griff haben wird.


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ – das gilt ebenso für unsere Lebensgeschichten. Manchmal brauchen wir Zeiten, in denen wir unser eigenes Leben überdenken. Wir fragen nach unseren Geschichten und Prägungen. Woran erinnere ich mich gerne in meinem Leben? Und was fällt mir schwer zu erinnern?


Natürlich sind solche Expeditionen zum eigenen Ich keine einfache Sache. Mal kann man lachen, sich freuen, und dann wird es auf einmal ganz ernst, schmerzt oder lässt einen einfach nur verstummen. Manches kommt ans Licht, was ich ganz zur Seite geschoben hatte. Aber es hilft, sich über sich selbst klar zu werden, die Gedanken zu ordnen, sich seiner eigenen Stärken zu besinnen und so dann seinen Weg gehen zu können.


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ Wir brauchen solche Expeditionen, in denen wir das eigene Ich genauer vermessen und kartographieren. Als mein Vater starb, gehörte zu denen Dingen, die ich in seinem Nachlass fand, ein Stapel alter Briefe. Sie stammten aus dem 2. Weltkrieg. Es war der Briefwechsel, den meine Großeltern mit ihrem ältesten Sohn Heinrich geführt hatten. 1943, mit gerade 17 Jahren, war er zur Wehrmacht eingezogen worden. Die letzten Briefe meiner Großeltern waren allerdings ungeöffnet zurückgekommen. Die Feldpost hatte sie zurückgeschickt, die Einheit Heinrichs war irgendwo in Ostpreußen überrollt worden, er selbst seitdem verschollen. Meine Großeltern haben dann auf ihn gewartet, eigentlich den Rest ihres Lebens. Erst 1980, kurz vor dem Tod meines Großvaters, wurde er für tot erklärt.


In den Briefen bemerkte ich die Angst der Eltern, die sich hinter dem eifrigen Versenden von Essenspaketen und warmen Socken verbarg. Ich spürte die Unsicherheit des Sohnes, der seine Eltern irgendwie beruhigen wollte. Ich hielt die Bilder meines Vaters in der Hand, die er mit neun Jahren für seinen Bruder an der Front gemalt hatte.


Erst beim Lesen dieser Briefe wurde mir klar, wie stark mein Vater durch diese Vergangenheit geprägt worden ist. Er war derjenige, der in die Fußstapfen des Bruders treten musste. Seine Eltern erwarteten das. Auch beruflich hatte er dann eigentlich keine Wahl. Er musste Hof seiner Eltern übernehmen, obwohl sicher andere Begabungen hatte. Aber so war es eben. Der Bruder im Osten verschollen, blieb gegenwärtig. Ich erinnere mich gut an sein Bild im Wohnzimmer meiner Großeltern. Noch immer habe ich im Gedächtnis, wie oft mein Vater von ihm sprach. Es hat ihn nie losgelassen, wenngleich er sich das wohl nie richtig eingestanden hat. Irgendwie hat das auch mich geprägt, ist in mir präsent, obwohl der Krieg schon mehr als 70 Jahre her ist. Aber das gehört wohl zum Brunnen der Vergangenheit und seiner oft nicht ermessbaren Tiefe.


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ Wo wir herkommen, welche Geschichten und Prägungen wir mitbringen, was unsere Vergangenheit ausmacht, das können wir nicht einfach loslassen. Es ist in unserer Gegenwart präsent. Nicht anders ist das in den Evangelien, v.a. in den Geschichten, die von Prägungen und den Voraussetzungen Jesu erzählen. Über Weihnachten und zu Epiphanias haben wir davon gehört. Vom Kind in der Krippe, von den Hirten vor Bethlehem, von den Sterndeutern aus dem Morgenland und heute vom Beginn der Wirksamkeit Jeus selbst. Matthäus erzählt von der Taufe Jesu, dann von seiner Versuchung in der Wüste, in der Jesus sich gleichsam über seine Mission und seine Sendung klar wurde. Schließlich mündet das ein in die Kernbotschaft Jesu: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Matthäus schickt dem aber noch einige Bemerkungen über die Voraussetzungen Jesu voraus, die wir heute als Predigttext gehört haben.


Nach der Gefangennahme Johannes des Täufers, der den gleichen Bußruf in der Wüste verkündet hat, zieht Jesus sich ins Grenzland Galiläas zurück. Er geht nach Kapernaum und verlässt seine Heimat Nazareth. Offensichtlich brauchte er nach den Erfahrungen von Taufe und Versuchung den Abstand von den Orten der Kindheit und Jugend. Auch das gibt ihm Klarheit über seine Bestimmung. Von den Rändern, von den Grenzen des bisher Vertrauten lässt sich besser auf das eigene Leben schauen. Es ist gut, sich diese Zeit zu nehmen. Jesus konfrontiert sich mit seiner Herkunft und seinen Prägungen. Dazu gehört seine jüdische Tradition ebenso wie die Begegnung mit dem Täufer. Der Blick auf die Geschichte des eigenen Lebens wird noch einmal wichtig. Das macht es Jesus möglich, seinen Weg in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes zu finden und dann Menschen in seiner Predigt vom Reich Gottes für eben diese Freiheit zu gewinnen. Jesus weiß, aus welchen Quellen sich seine Kraft speist.


Aber auch etwas Anderes wird im „Galiläa der Heiden“, wie Matthäus es nennt, klar. Jesu Umzug von Nazareth nach Galiläa, sein Gang an die Grenze, gewinnt mehr als nur biographische Bedeutung. Für Matthäus wird so vielmehr etwas Grundsätzliches an Jesu Auftrag war. Wie schon in den Weihnachtsgeschichten wird Jesus in die Tradition seines Volkes gestellt und mit den Hoffnungen auf den Erlöser verbunden. Denn die soll er erfüllen. Von den Rändern nimmt das Heil seinen Ausgang. Nicht in Jerusalem, sondern im „Galiläa der Heiden“. Nicht mit Macht und Herrlichkeit, sondern schlicht mit dem Wort. Von hier sieht „das Volk, das im Finstern sitzt, ein großes Licht“, von hier aus geht denen, die „am Ort und im Schatten des Todes saßen“, ein Licht auf. Wie schon in den Weihnachtsgeschichten beginnt der Weg Gottes in diese Welt im Unscheinbaren und Verborgenen: am Rande des großen römischen Imperiums, bei den Flüchtlingen und Umherirrenden und nun ganz an der Grenze des Heiligen Landes. Der Erlöser kommt von da, wo eigentlich nichts zu erwarten ist. aus dem. Weihnachten haben wir es gesungen: „Gott will im Dunkeln wohnen – und hat es doch erhellt“ (EG 16,5).


Damit fällt auch auf die großen Worte vom Gottesreich und der Buße, der Umkehr neues Licht. Johannes hatte die gleiche Botschaft, aber bei Jesus bekommt sie eine neue Bedeutung. Er selbst mit seiner Botschaft ist das Licht. Dieses Licht soll zu allererst aufklären und befreien. Es will uns begleiten auf unserem Weg. Auch das war Weihnachten wichtig: „Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte, kam euch die Rettung her“ (EG 16,5).


Dieses Licht lässt mich die Konturen meines Lebens schärfer erkennen. Ich kann mir über mich selbst klarwerden. Ich kann mir meine Lasten und Sorgen eingestehen, ich kann mit meiner Vergangenheit umgehen – im privaten und politisch-gesellschaftlichen Bereich. Ich kann mich öffnen für das Reich Gottes, von dem Jesus spricht.


Reich Gottes und Buße Gerechtigkeit erscheinen oft als so große Worte. Aber diese Worte werden nur dadurch wahr, dass sie in unserem Leben Bedeutung gewinnen. Reich Gottes meint nicht zuerst die Veränderung der Welt durch uns Menschen. Reich Gottes meint zuallererst, dass Gott mich annimmt und trägt in meinem Leben. Dass er – wie Jesus es später sagen wird– für uns sorgt, so wie für die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde. Unsere Aufgabe ist es, diese Gewissheit, dieses Gottvertrauen zu leben und damit die Welt um uns herum ein Stück besser zu machen. Das ist die Umkehr, die wir leben können. Denn Umkehr bedeutet zuallererst, die Perspektive auf mein eigenes Leben und auf mich selbst zu ändern. Nur so werde ich frei – zur mir selbst, zum anderen und zu Gott.


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ In Thomas Manns Roman wird das Erkunden des Brunnens zugleich zur Reise in die Freiheit. Sie hält Kräfte des Segens wie des Trostes bereit. Sie führt zu den Quellen des eigenen Lebens. Deshalb ruft Mann seinen Lesern zu: „Hinab denn und nicht gezagt.“ Aber nicht ohne zuvor zu bemerken: „Auch der Geist sei mit dir und gehe in dich hinein, damit du gesegnet seist mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.“


Amen.


 

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