2017-01-29 - 4. Sonntag nach Epiphanias - Pastor Dr. Christian Nottmeier

(Predigttext: Mt 14, 22-33)


22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe.

23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein.

24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.

25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer.

26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.

27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!

28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.

29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.

30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich!

31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich.

33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!


Liebe Gemeinde!


Zur Jahreswende haben wir es gesungen, Bonhoeffers anrührendes Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen.“ In seiner Melancholie, seinem Trost passt dieses Lied zu den Übergangen, die zu unserem Leben gehören. Wer möchte das nicht: Geborgen von guten Mächten sein, auch in der Angst und im Schweren sich irgendwie angenommen und bewahrt wissen. Wahrscheinlich berührt uns dieses Lied aber auch deshalb, weil es die Realität des Lebens nicht verschweigt, sondern anspricht.Natürlich liegt das auch daran, weil wir vom Leben und Schicksal des Autors dieses Liedes, von Dietrich Bonhoeffer, einem der großen evangelischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts wissen. Aber es berührt uns auch, weil es eben die oft harte Realität des Lebens beim Namen nennt.


Noch will das alte unsre Herzen quälen,/noch drückt uns böser Tage schwere Last./ Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen/ das Heil, für das du uns geschaffen hast.


Natürlich, wir leben in anderen Zeiten als Bonhoeffer. Aber in gewiss anderer Weise sind uns die existentiellen Fragen, die dieses Lied anspricht, durchaus gegenwärtig: eine wie auch immer zu bewertende Vergangenheit, die uns nicht loslassen will und der wir nicht einfach entfliehen können; eine Zukunft, die für uns, aber sicher für unsere Kinder zumindest hier ungewiss ist; die Angst, die uns alle, egal, zu welcher Bevölkerungsgruppe, welcher sozialen Schicht wie gehören, uns ständiger, wenn auch oft weggedrückter Begleiter ist. Bonhoeffer spricht von „aufgeschreckten Seelen“ und findet damit eine treffende Bezeichnung eines Gemütszustandes, der vielen von uns nicht fremd sein dürfte, auch wenn wir in der Regel nach außen Ruhe bewahren. Natürlich, mit Blick auf die Lage in unserem Land gibt es auch viele Zeichen der Hoffnung, der Gemeinsamkeiten über alles vermeintlich Trennende hinweg, auch in den Kirchen unseres Landes, die versuchen, genau das anzusprechen, ja, auch in unserer Kirche. In gewisser Weise ist dieser Gottesdienst mit dem Besuch unserer Schwestern und Brüder aus der Friedenskirche auch ein Zeichen dafür.

 

Aber dennoch: aufgeschreckte Seelen sind wir oft. Da hilft kein Weggucken oder Schönreden. Wir sind in stürmischen Zeiten unterwegs. Wir gehen auf dem Wasser, wir sind ständig in der Gefahr, Angst zu bekommen und dann vielleicht sogar zu versinken. Nicht anders als es Petrus in dieser anrührenden und so bekannten Geschichte aus dem Matthäusevangelium geht. Es ist schon eine merkwürdige, eine sonderbare Geschichte, die sich gewiss nicht in der oberflächlichen Frage erschöpft, ob dieses Wunder denn wirklich so stattgefunden hat. Aber ebenso ist es eine wunderbare Geschichte, tiefgründig wie der See, auf dem sie spielt. Ein Wunder, dem man vielleicht nicht gleich Glauben schenken will, aber ein Wunder, dass sich zugleich jeden Tag vollzieht und ereignet. So hat es jedenfalls der deutsche Dichter Hans Magnus Enzensberger in einem seiner Gedicht formuliert, das eben jene Geschichte vom Seewandel aufnimmt, auch wenn es ein „unbemerktes Mirakel“ bleibt.


Vom See Genezareth
hat er vermutlich nie gehört,
der Siebzigjährige dort an der Ampel.
Die Mutter ging nicht in die Kirche.
Wie geringfügig seine Chancen sind,
heil über die Kreuzung zu kommen,
mit dem Spitz an der Leine! Wunderbar,
dass er überhaupt aufgetaucht ist
aus dem Neolithikum, dass er
die Sturzgeburt überlebt hat,
damals bei Leschnitz im Chelm,
heute Lesnica, Polen, in einer Scheune,
umstellt von Heckenschützen, dann
das splitternde Eis auf dem Weiher,
mit sieben, beim Schlittschuhlauf,
später jahrelang Stempeln,
Trommelfeuer bei Kursk, Schlaganfall
auf Mallorca, und dennoch tausendmal
die tödliche Fahrbahn überquert
beim Milchholen unwahrscheinlich,
sagen wir: zehn hoch minus neunzehn,
dass er davongekommen ist
bis auf den heutigen Tag,
stolpernd, doch trockenen Fußes
auf seiner langen Wanderung
über den See Genezareth, von der er
so wenig weiß wie sein Hündchen.


Unser Leben, wie das Leben jenes 70jährigen, den Enzensberger da an der Ampel stehen sieht, als Wandel auf dem See Genezareth, den wir stolpernd, aber einigermaßen trockenen Fußes vollziehen, ohne eigentlich zu wissen, warum dies gelingt. „Glück gehabt“, könnte man vielleicht sagen, oder „davongekommen.“ Und genau da ist es, das Wunder! Der Siebzigjährige ist davongekommen... bis auf den heutigen Tag.

 

Viele gefährliche Situationen hat es in seinem Leben gegeben! Wunderbar und unwahrscheinlich, diese Begriffe klammern die doch eigentlich alltägliche Lebensgeschichte des Mannes ein. Er hat, wie viele andere Menschen auch, Schlimmes erlebt: geboren in einer Scheune in Schlesien unter einem schlechten Stern; als Kind beinahe im Eis eingebrochen; vor dem Krieg jahrelang arbeitslos; der größten Panzerschlacht des zweiten Weltkriegs im russischen Kursk lebend entkommen. Und auch beim Milchholen und Überqueren der Straße in ständiger Gefahr und doch wunderbar bewahrt. Aber der Dichter schaut nicht nur auf die überstandenen Katastrophen des Siebzigjährigen.

 

Das bloße Leben dieses Mannes ist schon ein Wunder. Dass ausgerechnet er aufgetaucht ist aus dem Neolithikum, dass die Stammlinie seiner Vorfahren ihn hervorgebracht hat: Das allein ist schon unfassbar. Wenn seine Eltern nicht geheiratet hätten und die Großeltern nicht, und die Urgroßeltern und alle weiteren Vorfahren auch nicht, würde es ihn gar nicht geben. Seit Jahrtausenden liefen die Familiengründungen der Urahnen auf seine Geburt zu. Und nun lebt er auf dieser Erde, seit siebzig Jahren schon, und er ist davongekommen... bis auf den heutigen Tag. Wer die Gefahren bedenkt, die Risiken überschlägt, die Wahrscheinlichkeiten berechnet, der müsste wirklich eine aufgeschreckte Seele sein.


Und so gehen wir auf dem Wasser. Jeden Tag neu. Wie Petrus. Wir kriegen Angst und sinken. Wie Petrus. Aber Jesus hält uns. Wie Petrus. Und vielleicht anders als der alte an der Ampel können wir wissen oder zumindest ahnen, dass es auch daran liegt, dass da einer ist, der uns entgegengeht.

 

25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer.

26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.

27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!

 

Er kommt uns entgegen. Manchmal mitten in der Nacht und mitten im Sturm. Wenn man es fast nicht mehr aushalten kann und sich eigentlich schon verloren wähnt. Aber es ist kein Gespenst. Er ruft uns zu: Fürchte dich nicht. Hab keine Angst. Komm. Ich gehe mit dir. Wie bei Petrus. Und Petrus wagt. Tut das Unglaubliche, läuft selbst über das Wasser. 

 

Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.

 

Alles läuft gut. Selbstgewiss macht Petrus sich auf den Weg. Doch dann kommen plötzlich die Ängste, die Sorgen, die alte Unsicherheit und Ungewissheit zurück. Die Gefahren des Sturm geraten wieder in den Blick. Plötzlich ist der Überschwang dahin. Nicht mehr der Jesus, der hier Halt und Zuversicht gibt, sondern der Sturm mit seinem Tosen und die Gefahr, einfach in den Fluten zu versinken, sind wieder präsent, nehmen das ganze Denken und die gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Plötzlich kann Petrus an nichts Anderes mehr denken. Und das zieht ihn nach unten.

 

Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich!


Petrus droht zu versinken. Wie wir. Aber Jesus hält ihn. Er ergreift ihn bei der Hand. Zieht ihn aus dem
Wasser. Nimmt ihn sich zur Brust.

 

Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich.


Wie tröstlich diese tiefgründige Geschichte ist. Jesus hält dich, erzählt sie uns eindringlich. Auch wenn die Angst dich packt. Auch wenn dein Vertrauen auseinanderfällt. Er hält dich.

 

„Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen/das Heil, für das du uns geschaffen hast.“ So hat Bonhoeffer es gedichtet. Und hier ist es, in diesem Moment des Gehens, des Versinkens und der Erfahrung, darin gehalten. Das Heil. Für einen Augenblick vielleicht. In dem es Petrus, den Jünger, uns klar ist, wir miteinander bekennen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!


Und dann geht es weiter. Das Leben des Glaubens ist wie das Leben selbst. Kein Spaziergang, sondern immer ein Gang über das Wasser. Immer auch ein Gang über das Wasser. Immer angewiesen auf Trost und Vertrauen. Immer wieder neu die Zusage und die Ermunterung: Fürchte dich nicht! Ich halte dich! Ich ziehe dich hinaus! Ich bin bei dir! Auch wenn du zu versinken scheinst. Habe Mut, diesen Weg zu gehen. Schau nicht nur auf deine Ängste, deine Sorgen, so berechtigt und Ernst sie auch sein mögen. Lass dich nicht von ihnen herunterziehen. So sagt es Jesus. Zu Petrus, zu uns. Und er streckt seine Hand aus: „Komm und geh.“ Und meint damit wohl auch dies: „Dein Herz allein, bedacht soll sein, auf Christus sich zu gründen.“ Damit
wir ihm gehen können, unseren lange und stolprigen Weg über den See Genezareth, mit ihm an unserer Seite und fest im Blick. Auch gegen unsere Angst.


Amen.


 

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