(Predigttext: Lk 17,7-10)
5 Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben!
6 Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein. Von der Pflicht des Knechts
7 Wer unter euch hat einen Knecht, der pflügt oder das Vieh weidet, und sagt ihm, wenn der vom Feld heimkommt: Komm gleich her und setz dich zu Tisch?
8 Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Bereite mir das Abendessen, schürze dich und diene mir, bis ich gegessen und getrunken habe; und danach sollst du essen und trinken?
9 Dankt er etwa dem Knecht, dass er getan hat, was befohlen war?
10 So auch ihr! Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.
Liebe Gemeinde!
Im tiefsten Winter des Jahres 1546 machte Martin Luther sich auf die letzte Reise seines Lebens. Er war 62 Jahre alt, krank und schwach. Es ging zurück in die alte Heimat in Grafschaft Mansfeld, wo er einen Streit der dortigen Grafen um die Rechte an den Silberminen schlichten sollte. Unterwegs brach Luther in seiner Geburtsstadt Eisleben zusammen. Die Reise musste unterbrochen werden und einige Tage lang schien, der Gesundheitszustand Luther würde sich wieder stabilisieren. Als Luther gestorben war, fand man auf seinen Schreibtisch einen Zettel, der offensichtlich Notizen für eine Predigt enthielt, die Luther nicht mehr zu Ende vorbereiten konnte. Darauf war zu lesen: „Die Heilige Schrift meine niemand genug geschmeckt zu haben, wenn er nicht hundert Jahre mit den Propheten die Kirche regiert hat. Deshalb ist es ein schwer zu fassendes Wunder 1. mit Johannes dem Täufer, 2. Mit Christus, 3. mit den Aposteln. Du versuche nicht, diese göttliche Aeneis zu erforschen, sondern beuge dich nieder und bete ihr Spuren an. Wir sind Bettler. Das ist wahr.“
Das also ist Luthers Fazit als Bibelexperte und Übersetzer. Allenfalls unvollkommen habe er etwas von der göttlichen Botschaft verstanden, bestenfalls einige Spuren entdeckt. Insgesamt aber ist er – so hätte er es mit den Worten unseres Predigttextes ausdrücken können: „Ich bin ein unnützer Knecht.“ Oder in seinen Worten: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Was man aus heutiger Perspektive vielleicht vorschnell als Sklavenmoral, als Klein- und Niedermachen des Menschen in der Religion begreifen mag, ist bei Luther Ausdruck eines skeptischen und zugleich bei genauerem Hinsehen höchst realistischen Menschenbildes. Zugleich fasst dieser Zettel noch einmal Luthers ganze Theologie, ja mehr noch seine religiöse Erfahrung zusammen: vor Gott können wir nicht mit unseren
Werken, unseren Verdiensten prahlen. Denn wir sind nicht die Gebenden, sondern die Empfangenden. Wir leben nicht aus uns selbst, sondern aus Gottes Gnade. Nichts Anderes haben wir vorzuweisen, als unsere oft bescheidenen Versuche, auf Christus und die Gnade des göttlichen Vaters zu vertrauen.
Es ist kein Zufall, dass dem kleinen Gleichnis vom Knecht ein Wort Jesu über die Kraft selbst des kleinen Glaubens vorausgesetzt ist. Jesus geht es offensichtlich nicht darum, die Menschen klein zu machen. Dass sogar der Glaube, der klein wie ein Senfkorn ist, Berge versetzen kann, zeigt, dass es nicht auf ein Mehr oder Weniger an Glauben ankommt. Es geht nicht um ständiges Bemühen darum, dass mein Glaube mehr und besser und sichtbarer wird. Es geht eher um das Gegenteil: Vertrau dem, was du hast. Gott gibt dir das, was du jetzt brauchst. Sorge dich nicht, es wird reichen.
Auch das harsche Bild vom Knecht und vom Herrn, um das es heute geht, zielt dann nicht auf die Erniedrigung des Menschen, der vor Gott gleichsam nie genug ist. Es zielt eher darauf, den Menschen von sich selbst und damit zu Gott zu befreien. Damit meine ich nicht, dass wir alle unsere Bedürfnisse vergessen sollen oder das wir Menschen eben immer nur sündhaft und schlecht seien. Keineswegs. Wohl geht es aber darum, von einer Frage wegzukommen, die uns Menschen immer wieder bewegt. Die Frage lautet: Was habe ich eigentlich davon? Bekomme ich auch das, was mir zusteht? Auch die Frage – die ja ebenso im Evangelium von den Arbeitern im Weinberg traktiert wird – hat durchaus ihre Berechtigung. Sie hat allerdings einen Fehler: sie bleibt bei mir. Ich drehe mich damit um mich selbst, bleibe im Blick auf mich gefangen. So verkenne ich, dass ich aber erst von diesem Blick befreit werden muss, um zu Gott und so auch wirklich zu mir selbst zu kommen.
Jesus erzählt dazu ein Bild aus der Alltagswelt seiner Hörer, das uns fremd geworden ist, das damals aber unmittelbar einleuchtend war. Es geht um Herren und Knechte. Die Aufgaben sind klar verteilt. Beide sind nicht gleichberechtigt und begegnen einander nicht auf Augenhöhe. Der Knecht soll dienen und nicht mit dem Herrn gleichzeitig seine Mahlzeit einnehmen. Dank oder Ansprüche sind da nicht vorgesehen. Liest man genauer, was Jesus sagt, so bemerkt der Hörer schnell einen Bruch in der Geschichte. Am Anfang spricht Jesus die Jünger als Herren an, wobei die Jünger zumeist arme Fischer waren, die sich sicher keinen Knecht im Haus leisten konnten. Nach der Mitte aber dreht Jesus die Perspektive plötzlich um. Die Jünger werden nun als Knechte angesprochen. Was denn nun? Sind sie Herren, denen gedient wird, oder Hausarbeiter, die selbst dienen und dem Herrn gehorchen müssen?
Dieser Bruch in der Geschichte des Lukas fällt sehr ins Auge. Aber da ist noch etwas Anderes. Die Herr-und-Knecht-Geschichte kommt vollständig ohne theologischen Bezug aus: keine Rede von Gott, keine Rede von Gnade und Barmherzigkeit, keine Rede von Heil und Reich Gottes. Bei näherem Hinsehen verschwindet alle Klarheit aus der Geschichte, und die Zuhörer stehen vor einem Rätsel, selbst dann, wenn sie die alte Rede von der Arbeit der Knechte noch kennen. Und dennoch sollte Jesu Rede über Knechte und Herren nicht einfach unter den Tisch der Gegenwart fallen, als sei das unnützer biblischer Müll, den man erst einmal wegkehren muss, um zur Wahrheit von Gnade und Liebe vorzudringen. Manchmal finden sich Gnade und Liebe gerade im Rätselhaften, Widerständigen und Unverständlichen.
Vielleicht hilft auch da ein Blick auf Luther. Eine seiner berühmtesten Schriften „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aus dem Jahr 1521, beginnt mit einer berühmten Doppelthese: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Und sofort die Gegenthese: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Kann ein glaubender Christ seine Freiheit ausleben, wenn er anderen Menschen untertan ist und ihnen dient? Kann er zugleich ein Herr und ein Knecht sein?
Offensichtlich ist genau eine solche Doppelnatur des Menschen möglich. Auf der einen Seite übt der Mensch Zwang auf sich selbst aus, um eigene Ziele und Wünsche zu verwirklichen. Auf der anderen Seite wird ihm in Gnade Freiheit geschenkt. Luther sagt auch, diesen Gedanken könne man auf die doppelte Natur des Menschen beziehen. Der Mensch ist geistlich und leiblich zugleich. Und diesen Gedanken kann man für die Gegenwart aufnehmen: Der Mensch ist Herr und Knecht zugleich. Es geht nicht mehr um prekäre Arbeitsverhältnisse, schlechte Entlohnung oder Arbeitszeitbegrenzung. Im Bild vom Herrn und vom Knecht geht es um den Ort des Menschen in der Welt, gegenüber sich selbst und gegenüber Gott.
Wer in der Gegenwart nach Knechtschaft sucht, der findet das Phänomen der Selbstverknechtung, nur, dass das heute anders, schöner und täuschender benannt wird als vor 2000 Jahren. Man spricht dann von Selbstoptimierung. Der Coach, die Trainerin, der Berater und der Ratgeber vereinen sich zum Chor der Verpflichtungen: Du musst dein Leben ändern! Du musst dich verbessern! Du darfst dich nicht auf die faule Haut legen! Du musst. Du sollst. Du arbeitest. Und in einer Mischung aus Zögerlichkeit und Schuldbewusstsein fängt der verknechtete Mensch an, jeden Tag 10000 Schritte zu gehen, genau bewacht von einem elektronischen Schrittzähler. Er ernährt sich fettfrei oder ohne Kohlehydrate, joggt dreimal in der Woche vierzig Minuten und verzichtet auf Milchschokolade, Speiseeis und zuckerhaltige Getränke. Er baut Netzwerke auf, um Karriere zu machen. Er kleidet sich neu ein, damit die anderen ihn als einen freundlichen und gewinnenden Menschen schätzen. Optimierung klingt optimistisch und positiv. Wenn du dich anstrengst, dann schaffst du es. Und dennoch verbirgt sich in diesem Optimismus eine besondere Form der Knechtschaft. Wer sagt: Anstrengung bringt Erfolg, der sagt auch: Wo der Erfolg ausbleibt, hat sich jemand nicht genug angestrengt. Luther kannte dieses Phänomen mit Blick auf seine eigenen Versuche religiöser Selbstoptimierung als Mönch: wer Gott gefallen will, der muss gute Werke tun – bis zur Selbstüberforderungen.
Dagegen setzte Luther eine bitter errungene Einsicht: Niemand kann bestehen, wenn er einmal vor das letzte Gericht Gottes tritt. Er mag noch so viele gute Werke getan haben, die Sünde wird immer schwerer wiegen.
Denn der Mensch wird sich stets selbst unter Zwang stellen. Er verknechtet sich selbst, weil er ein Sünder ist. Darum gilt: Wenn ein Mensch vor Gott tritt, kann er mit seinen Werken nicht bestehen, denn er ist ein Knecht seiner Sünde und keineswegs ein Herr. Vor Gott sind die Menschen darum auf Glauben und Gnade angewiesen. Vor ihm bestehen sie nicht durch Leistungen. Ihre guten Werke werden in keine Rangliste eingetragen. Der Sünder verfällt dem Irrtum, dass er Leistungen erbringen muss, um vor Gott zu bestehen.
Der Glaubende hat erkannt, dass er sich allein auf Gottes Gnade verlassen kann. Er kann seine Vorläufigkeit und seine Unvollkommen annehmen. Er kann sein Leben als Geschenk Gottes begreifen. Leben als Geschenk heißt Freiheit von Zwängen, von Diätzwängen, Leistungszwängen, Karrierezwängen., von allen anderen Zwängen. Leben als Geschenk heißt: Ich gehe behutsam mit anderen Menschen um. Ich gehe behutsam mit mir selbst um. Ich muss nicht als Knecht von Schlankheits- und Erfolgsidealen herumlaufen. Ich bin – in aller Unvollkommenheit – frei. Das heißt nicht, ich kann machen, was ich will, das wäre Anarchie. Es heißt: Ich kann in aller Freiheit auf meine Nächsten schauen, auf die Menschen um mich herum. Ich kann ihnen helfen, wenn sie Hilfe benötigen. Ich mache nicht andere Menschen zu meinen Knechten, und ich werde von anderen selbst nicht zum Knecht gemacht. Wenn Gott der Herr ist, so können sich alle Menschen und Glaubenden als gleiche betrachten. Knechtschaft ist dann aufgehoben. Denn Gott ist barmherzig.
Und diese Barmherzigkeit hat ein menschliches Antlitz. Von ihr wird uns erzählt in der Geschichte von Jesus selbst. Der übrigens nach den Gesetzen seiner Zeit gescheitert ist – jedenfalls nach den Maßstäben von politischen und religiösem Erfolg, den man damals für selbstverständlich hielt. Sein Weg ging ans Kreuz, sein Leben schien damit gescheitert, ja unnütz. Aber gerade da, im Verborgenen, im Rätselhaften, im scheinbaren Scheitern kommt uns Gottes Gnade entgegen. Sie begegnet uns nicht in unserem Tun, sondern in Jesus Christus, dem Menschen Gottes entgegen.
Amen.