(Predigttext: Mk 14, 17-26)
17 Und am Abend kam er mit den Zwölfen.
18 Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich,
ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten.
19 Da wurden sie traurig und sagten zu ihm, einer nach dem andern: Bin ich's?
20 Er aber sprach zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht.
21 Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.
22 Und als sie aßen, nahm er das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib.
23 Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus.
24 Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.
25 Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes.
26 Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.
Liebe Gemeinde,
wieder feiern wir am Vorabend des Karfreitags ein Christfest und erinnern uns an jenen letzten Abend Jesu in Freiheit, an die Einsetzung des Abendmahls. Für viele von uns ist das Abendmahl zweifellos eine Art symbolischer Verdichtung unseres Glaubens. Dass Jesus Christus uns trägt, uns annimmt, uns neues Leben schenkt, unsere Schuld vergibt und uns so in unser Leben und unsere Welt sendet, dass wird in dieser symbolischen Handlung eben nicht nur mit Worten gesagt, sondern in der Gemeinschaft und im Miteinander Brot und Wein teile sichtbar und erfahrbar. Man kann es nicht nur hören, sondern auch mit allen Sinnen wahrnehmen: „Schmecket und sehet, wie freundlich unser Herr ist.“
Für die Jünger muss dieser letzte Abend ein besonderer Moment gewesen sein. Das wichtigste jüdische Fest, Passah, wollten sie feiern. Und Jesus deutet dieses Fest um auf sich und seine Person, auf seine Botschaft vom Reich Gottes. „Mein Leib, für dich.“ „Mein Blut, für dich.“ Und auch, dass es ein Abschied ist, macht er deutlich: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes.“
Man kann sich diese Szene wunderbar ausmalen, in ihrer Dramatik, ihrer Intensität, ihrer Intimität. Kein Wunder, dass sie von allen Geschichten aus dem Leben Jesu am besten erinnert und bewahrt worden ist, bis heute.
Aber es ist nur eine Szene großer Glaubensintensität, es ist nicht nur eine Szene, die ins vielleicht heiligste der christlichen Religion führt. Denn diese Geschichte lässt nicht nur gleichsam einen der heiligsten Momente des Christentums erfahren, sondern sie führt mit großer Ernsthaftigkeit, ja fast Brutalität zugleich in düsteren Verhältnisse, die unsere Welt kennzeichnen. Denn die Gemeinschaft, die da so intensiv feiert, ist bedroht, ja eigentlich schon fast zerbrochen. Nicht nur, dass alle bald auseinanderlaufen werden, auch der Verräter sitzt schon mit am Tisch. Allen ist das deutlich, denn Jesus spricht es unmittelbar vor der Mahlfeier an: „Einer unter euch wird mich verrate.“ Und alle fragen: „Bin ich´s“ und gehen in Gedanken durch, wem unter den Anwesenden sie das wohl zutrauen würden.
Der Verrat sitzt also mit am Tisch. Verrat ist ein sehr menschliches Phänomen. Er begegnet uns immer wieder. Es gibt ihn in unseren menschlichen Verhältnissen, in denen wir uns manchmal von anderen hintergangen, allein gelassen, ja verraten fühlen. Verrat ist deshalb zu schwer zu ertragen, weil er ein Kapital in Frage stellt, dass wir Menschen am meisten zum Leben brauchen: Vertrauen. Schmerzlich, ja kaum zu ertragen, wenn dieser Verrat im engsten Freundes- oder Familienkreis geschieht. Ein Pfarrer aus der ehemaligen DDR, der jetzt in der westfälischen Kirche Dienst tut, hat das für sich in einem mich bewegende Text aufgeschrieben, in dem sich wie bei Markus Verrat und Abendmahl miteinander verbinden:
„In meiner Erinnerung zeigt sich mit verblüffender Genauigkeit das Innere eines wilhelminischen Zellenbaus. Es ist die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Pankow. Lichtsignale auf dunklen Fluren, graue Eisentüren, Glasbausteine vor den Fenstern. Seltsamerweise sind auch Gerüche und Geräusche sofort abrufbar. Ich höre das Singen der Schlüssel und die schleichenden Schritte der Bewacher. Ich kenne jedes Stoffmuster und jede Fußbodenfliese auswendig, so tief und fest ist diese bedrohliche Behausung in der Seele verankert. Ich sehe nun einen Theologiestudenten im Trainingsanzug, 24 Jahre alt, inhaftiert wegen angeblicher „landesverräterischer Agententätigkeit“. Er geht in seiner Gefängniszelle unter einer taghellen Neonröhre auf und ab. Die Tür öffnet sich. Der Gefangene bekommt, nach fast drei Monaten zum ersten Mal, Zivilsachen ausgehändigt. Dann wird er, als Mensch verkleidet, durch Gitterschleusen und lange Flure in einen Besucherraum geführt. In der Mitte steht ein Tisch mit zwei Stühlen, am Schreibtisch sitzt der Vernehmer. Gefolgt von zwei Bewachern, die sich seitlich postieren, kommt der Vater des Gefangenen zu Besuch. Er ist Pfarrer. Die beiden begegnen sich das erste Mal seit Monaten. Sie lesen sich gegenseitig in den Gesichtern und suchen nach Worten. Der Vater hat Porzellantassen, Kuchen und eine Thermoskanne mitgebracht. Er gießt ein. Kaffeeduft erfüllt den Raum. Sie reden, sie schweigen. Der Gefangene fragt nach dem Abendmahl, das er schriftlich beantragt hat. „Nicht genehmigt!“, sagt der Besucher. Aber dann nimmt er kurzerhand eines der Kuchenstücke, spricht die vertrauten Einsetzungsworte aus dem Evangelium und gibt den Kuchen seinem Sohn. Danach spricht er über der Kaffeetasse das Kelchwort und gibt auch sie seinem Sohn weiter. Beim Vaterunser, das Vater und Sohn gemeinsam sprechen, wissen die Bewacher nicht, wo sie ihre Hände lassen sollen. Der Vernehmer verbittet sich in Zukunft „Handlungen“ dieser Art.
„Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Nie war der Vers aus dem 23. Psalm wahrer als an diesem Abendmahlstisch mitten in der Hölle. Und nie wieder war es in der Hölle so hell. Der Gefangene geht beseelt und befreit zurück in seine Zelle. Die Worte haben endlich sein Herz gefunden und dort ein Freudenfeuer entfacht.
Ein letztes Mal gibt mein Gedächtnis ein vertrautes Bild frei. Aus dem Greifswalder Theologiestudenten ist inzwischen ein westfälischer Pastor geworden. Zum wiederholten Male bekommt er Akteneinsicht in der Berliner Gauck-Behörde. Nach Jahren hat er neue Auszüge bekommen und einen weiteren „IM“ gefunden, einen „inoffiziellen Mitarbeiter“ der Stasi. Als man ihm den Namen entschlüsselt, trifft ihn der Schlag. Es ist sein eigener Vater, mit dem er das Abendmahl im Gefängnis unter den Augen der Bewacher gefeiert hat.
Diese bittere Erkenntnis fegt alle mühsam eingeübten Wahrheiten sofort vom Abendmahlstisch. Ist Gott noch Gott, Sohn noch Sohn, Vater noch Vater? Als hätten die Worte kein Gewissen.
Die Morgensonne steht beim nächsten Abendmahlsgottesdienst in den hohen Chorfenstern der Kirche und macht den Jüngern auf dem Abendmahlsbild in der Mitte leuchtende Gesichter. Als wäre nichts geschehen.“ - Matthias Storck: Bewahren, Bewähren, Bewohnen, in: Pastoralblätter 157 (2017), 283-285.
Nah beieinander als heute und auch damals in Jerusalem, tiefste Geborgenheit und die Abgründe menschlichen Tuns. Der Verrat und mit ihm Judas, der Verräter, sitzen mit am Tisch. Jesus benennt es, ohne einen Namen zu nennen. Ja, er schließt den Verräter nicht aus.
Der Verrat nun hat verschiedene Gesichter. Auch die meisten Verräter haben eine Sicht er Dinge, mit der sie ihr Handeln auch moralisch zu rechtfertigen Versuchen. Auch bei Judas hat man es versucht. Vier Erklärungen hat man sich zu Recht gelegt.
Judas, so lautete die Erste, hat Wohl die Kasse Jesu und seiner Jünger verwaltet. Und vielleicht, so haben schon manche biblischen Autoren vermutet, war er schlicht korrupt. Vielleicht war schlicht gierig, wollte seine Betrügereien unter den Teppich kehren und nutzte dann einfach die Gelegenheit. Dann war er freilich ein schlechter Geschäftsmann, den 30 Silbergroschen war ein recht übersichtlicher Betrag.
Die zweite Erklärung zielt darauf, dass Judas sich als Ausgeschlossener im Kreise der Jünger fühlte, die alle aus dem Norden, aus Galiläa kamen, während er aus Judäa kam. Von das kam Jesus auch, aber dennoch bevorzugte er die Männer aus Galiläa, Petrus etwa, Andreas und Johannes und nicht ihn. Dann ging es um Anerkennung, die ihm fehlte.
Oder drittens war Judas einfach enttäuscht, denn sein Beiname könnte auch Dolchträger bedeuten. Judas wäre dann ein Sympathisant des bewaffneten Widerstands gegen die Römer, Anhänger einer Guerilla, die Überfälle auf die Römer und ihre Sympathisanten verübt. Wir wissen, dass auch andere der Jünger Jesu aus diesem Umfeld kamen. Judas war dann enttäuscht, dass Jesus sich nach dem Einzug in Jerusalem nicht an die Spitze der Bewegung stand, ja ausdrücklich Politik und Religion voneinander trennte. Viertens schließlich wird gesagt, Judas hätte Jesus durch den Verrat gleichsam zum Widerstand zwingen wollen. Das knüpft beim letzten an, setzt aber voraus, dass Judas hoffe, dass Jesus sich gegen seine Verhaftung mit Gewalt wehren wollte, was Petrus dann ja auch versucht hat. Das wäre dann das Signal zum Aufstand gewesen, dass Judas sich erhoffte.
Man muss jetzt nicht entscheiden, was man für da Plausibelste hält. Alle vier Motive sagen aber etwas darüber, wie wir Menschen, vielleicht ohne es zu wollen, zu Verrätern werden können, uns – vielleicht mit den besten Absichten und Motiven – von Gott trennen und das tun, was die Bibel Sünde nennt, nämlich Getrennt, entfremdet sein von Gott.
Bei Judas dem Dieb und Geldgierigen zeigt es uns, was passieren kann, wenn wir anders über die Liebe zu Jesus stellen, sei es Geld, Ansehen und Besitz. Wie es uns so gefangen nehmen kann, dass wir den Blick für alles andere verlieren.
Bei Judas dem Ausgeschlossenen wäre es Verbitterung, Verletzung, die uns so um uns selbst drehen lässt, dass unser Herz hat und unversöhnlich und nur noch selbstbezüglich wird. Wer verletzt, verbittert, hartherzig geworden ist, dem fehlen die Maßstäbe, selbst große Gesten der Zuneigung noch wahrzunehmen.
Judas der enttäuschte politische Überzeugungstäter könnte für ein Verständnis von Glaube und Religion stehen, in dem diese nur den eigenen Überzeugungen und Interessen dienen. Ist das der Fall, ist man begeistert dabei. Geht Gott mit einem andere Wege, als man es sich selbst vorstellt, wendet man sich ab. Und Judas, der Jesus zur Entscheidung zwingen will, das wäre der Mensch in der Selbstüberhebung, der Mensch, der Gott gleichsam seinen Willen aufzwingen will, der meint, es besser zu wissen.
Was mich freilich noch mehr fasziniert, sind nicht die Motive des Judas und was sie über uns sagen, sondern die Art, in der Jesus hier reagiert. Jesus weiß von dem Komplott, er benennt es ausdrücklich, er warnt vor den Konsequenzen für den, der es in Gang gesetzt hat. Und begegnet auch Judas mit Liebe. Der Verräter wird nicht bloßgestellt, sein Name wird nicht genannt. Was wäre passiert, wenn Jesus das getan hätte? Petrus an die anderen hätten mit Judas wohl kurzen Prozess gemacht. Aber nichts davon. Jesus begegnet ihm mit Liebe. Eigentlich unglaublich. Es ist Judas, der sich auch dann noch abwendet und seinen Weg geht, der auch ihm zum Verhängnis wird.
Am Ende, ja, am Ende bereut auch Judas. Aber wir wissen nicht genau was. Dass sein Plan missglückt ist? Vielleicht begreift er, dass Jesus durch ihn gestorben ist. Aber begreift er, dass Jesus auch für ihn gestorben ist. Vermutlich unterscheidet ihn das von Petrus, dem Verleugner. Auch der weint wie Judas schließlich bitterlich. Und wird durch seine Tränen zu Christus geführt. Judas in seinen Tränen bleibt in sich gefangen und findet so den Tod...
Warum also der Verrat, warum tut Judas, was er tut, obwohl Jesus ihm nur mit Liebe, mit nichts als Liebe begegnet? Immerhin möglich, dass Judas Jesus seinen Feinden übergeben hat, weil er sich und sein Leben nicht an Jesus übergeben wollte. Doch wer will das schon entscheiden.
Denn: „Die Morgensonne steht beim nächsten Abendmahlsgottesdienst in den hohen Chorfenstern der Kirche und macht den Jüngern auf dem Abendmahlsbild in der Mitte leuchtende Gesichter. Als wäre nichts geschehen.“
Amen.