2018-12-31 - Altjahresabend - Pfarrerin Nicole Otte-Kempf

(Jesaja 51,4-6)


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„Alles fließt“. Das ist einer der ältesten philosophischen Gedanken, die uns aus dem alten Griechenland überliefert sind. Dem Philosophen Heraklit um 500 vor Christus wird dieser Satz zugeschrieben. Manche verstehen den Satz als Bild für das Gefühl, dass nichts auf dieser Welt Bestand hat. Alles ändert sich – ständig.

 

Festtage, Hoch-Zeiten, die aus dem Alltag der Tage herausragen, sind Anlässe, innezuhalten, sich umzuschauen und den Fluss des Lebens und der Zeit zu betrachten und zu fragen: Was bleibt?

 

Altjahresabend, Silvester ist eine solche „Hoch-Zeit“, ein herausgehobener Moment. Bevor wir das neue Jahr begrüßen, ist diese Stunde Anlass für einen Blick zurück auf das, was gewesen ist. Anders als Geburtstage, anders als andere persönliche Feiertage ist der letzte Tag im Jahr auch Anlass, den Gang der Welt zu betrachten. Seit Wochen gibt es in Zeitungen, Fernsehen und Radio Jahresrückblicke. Herausragende Ereignisse werden zusammengetragen. Es wird an politische Ereignisse erinnert oder an Begebenheiten von Prominenten und Menschen, die im Licht des öffentlichen Interesses stehen. Die gleichen Ereignisse werden aus unterschiedlicher Perspektive beschrieben und erzählt: vielleicht ein Versuch, ein zurückliegendes Jahr zu verstehen. Vielleicht der Versuch, diese Welt, dieses Leben in seiner erschreckenden und faszinierenden Vielfalt zu begreifen. Vielleicht auch der Versuch, das Leben in seinem weiteren Verlauf in den Blick zu nehmen: Wenden die Dinge sich zum Besseren oder zum Schlechteren?

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Lese, höre oder sehe ich Jahresrückblicke, bin ich manchmal überrascht, was in einem Jahr geschehen ist: Ich hatte es bereits vergessen. Oder es fehlt mir das Gefühl für die verflossene Zeit: Ist das wirklich schon so lange her? Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen.

 

Wie der Liedermacher Reinhard Mey in einem seiner frühen Lieder singt: „Wirklich schon wieder ein Jahr, ist das schon so lange her?“ Ich frage mich in einem solchen Augenblick: Was ist so wichtig, dass es mir in Erinnerung bleibt, als sei es gestern gewesen? Was ist so wichtig, dass es die Zeit bis heute – zumindest in meiner Erinnerung – überdauert hat? Was ist so unwichtig, dass ich es bereits vergessen habe? Und was möchte ich am liebsten vergessen – und kann es doch nicht.

 

„Alles fließt.“ Nichts bleibt, wie es war, wir stehen in einem dauerhaften Prozess der Veränderung. Wie der Fluss, dessen Wasser immer in Bewegung ist und der – wenn wir es mit bloßem Auge auch fast nicht sehen können– im Laufe der Jahre seine Gestalt verändert. Ob etwas so sein wird, wie ich, wie wir es erhoffen und erwarten, wissen wir letztendlich nicht. Wir können planen und machen und tun. Aber weil alles in Bewegung ist, ist auch unsere Zukunft ungewiss. An solchen Tagen, die daran erinnern, dass wir im Leben immer auf der Schwelle zwischen Altem und Neuem, zwischen Gestern und Morgen stehen, wird uns das immer wieder – auch schmerzhaft – bewusst.

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In der biblischen Tradition begegnen uns diese Erfahrungen in den Erzählungen vom Volk Israel auf der Wanderschaft. Seit Beginn der biblischen Erzählungen sind Menschen unterwegs. Abraham macht sich auf den Weg an den Ort, an dem er mit seiner Familie leben kann.

 

Seine Nachfahren Isaak und Jakob waren ebenfalls auf Wanderschaft.

 

Über Josef, einen der Söhne Jakobs, kommt das Volk Israel nach Ägypten, weil sie dort das Notwendige für ihr tägliches Leben finden. Der Preis dafür, Knochenarbeit beim Pyramidenbau für einen Hungerlohn, ist irgendwann zu hoch.

 

So macht sich das Volk erneut auf den Weg, den mühsamen, beschwerlichen und langen Weg durch die Wüste in das Land, in dem sie sicher leben können. 40 Jahre ist das Volk auf Wanderschaft, hin und her geworfen von Schicksalsschlägen, von der Angst vor dem Morgen, von den Sorgen um ihren Lebensunterhalt. Zerrissen zwischen dem Vertrauen auf eine bessere Zukunft und der Unsicherheit, was diese tatsächlich bringen wird.

 

An diese biblischen Erzählungen und die in ihnen aufgehobenen Erfahrungen knüpfen viele biblischen Texte an. Erzählungen gehören zum kollektiven Gedächtnis des Volkes Israel.

 

Auch die biblischen Propheten erinnern an die Fürsorge Gottes in allen unterschiedlichen Lebenslagen. Texte über das Vertrauen angesichts einer ungewissen Zukunft sollen auch uns in unserem Glauben und Vertrauen stärken.

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Ob im Bild vom Fluss oder in den biblischen Erzählungen von Menschen, die in Bewegung sind, kommt zum Ausdruck, dass wir immer auf der Schwelle zwischen dem Gestern und dem Morgen sind und nicht wissen können, was der nächste Tag bringen wird. Das kann beunruhigen und unruhig machen. Mag sein, manche Unruhe unseres Lebens rührt aus solch grundsätzlicher Unruhe und Angst.

 

Gegen diese Unruhe, gegen die unruhig machende Frage, was bleibt von dem, was war, setzt der Prophet Jesaja großartige Worte von kaum fassbarer Bedeutung und Tiefe:

 

Lesen des Textes Jes 51,4-6


4 Merke auf mich, mein Volk, hört mich, meine Leute! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen.

5 Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm.

6 Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.


5

Worte von zeitloser, ewiger Schönheit: Gottes Recht wird zum Licht der Völker; Gottes Gerechtigkeit wird nie zerbrechen; Gottes Arme werden die Völker richten. Diese Worte stehen da, etwas fremd, entfernt von mir und meinem Leben.

 

Um diese klangvollen Worte mir und meinem Leben etwas näher zu bringen, hilft es, mich auch noch an den zu erinnern, der diesen Worten eine Gestalt gab: Jesus Christus.

 

In ihm wird das, was ewig ist, Person. Und wenn in der Bibel viele daran erinnern, sich nicht durch falsche Lehren irre machen zu lassen, dann hilft es, mich an das zu erinnern, was Jesus getan und gesagt hat. In einfachen Worten, in Geschichten aus dem Alltag hat er Menschen gelehrt, was von ewiger Bedeutung ist, was Bestand hat und im Fluss der Zeit bestehen wird.

 

Ich greife heute Abend einen Satz heraus, der vielleicht so etwas wie das Zentrum seiner Botschaft ist, wenn Jesus, der treue Jude und Kenner der prophetischen Schriften, sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28)

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Zu ihm kann ich kommen mit all meiner Kraftlosigkeit, mit dem, was mein Leben schwer gemacht hat in den vergangenen zwölf Monaten, mit den Sorgen und Ängsten, die ich um mich und mein Leben habe.

 

Da höre ich nicht „Stell dich nicht so an“ oder „Das ist doch ganz normal, das geht anderen doch auch so.“ Sondern er sagt: Komm her mit allem, was dich belastet, ich werde dir etwas geben, das dich wieder zu Kräften kommen lässt: eine liebevolle Geste, ein tröstendes Wort zur passenden Zeit, manchmal die einfache und zugleich schwere Erfahrung: Das Leben ist weitergegangen, auch wenn ich darauf nicht mehr hoffen konnte. Angesichts von Kriegen, die das Leben so vieler Menschen bedrohen und zerstören, denke ich an die Worte Shalom Ben-Chorins, 1942, also mitten im 2. Weltkrieg, geschrieben: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“

 

Kommt her zu mir, sagt Jesus, der die Worte und Hoffnung des Jesaja verkörpert, kommt alle her mit eurer Mühsal, ich will euch neue Hoffnung und neue Kraft geben. Denke ich an die Bedrohung von Menschen durch Menschen, dann sind diese Worte nicht nur Trost, sondern auch Protest gegen das, was Menschen angetan wird und womit ihr Leben beladen wird. Auch in diesem zurückliegenden Jahr sind Menschen durch Kriege oder kriegerische Auseinandersetzung verletzt oder getötet worden. Auch im vergangenen Jahr haben Menschen ihren bisherigen Lebensort verlassen, weil sie nicht genug zum Leben hatten oder unter ungerechten und schlechten Arbeitsbedingungen zu leiden hatten – so wie das Volk Israel Ägypten verlassen hat.

 

Jesu Worte werden auf diesem Hintergrund zum Protest. Und sie erinnern mich daran, wachsam zu sein und zu bleiben angesichts des Leids und der Mühsal von Menschen in dieser Welt.

7

Was bleibt im Strom der Zeit? Was bleibt angesichts der Veränderungen, die ein Jahr oder ein ganzes Leben prägen? Was trägt durch die Veränderungen hindurch?

 

Die Hoffnung darauf, dass die Worte des Propheten gültig bleiben: Gottes Heil tritt hervor. Und das Vertrauen darauf, dass es einen gibt, von dem ich mich getragen weiß, aufgehoben, gehalten. Der sagt, bei mir kannst du alles lassen, was dich belastet. Was trägt ist Liebe! Eine Liebe, die alle einlädt, ohne danach zu fragen, wer sie sind, was sie leisten, welchem Volk sie entstammen oder welcher Religion sie angehören. Was diese alle verbindet, ist die Mühsal, das Beladensein. Manchmal geschieht es, dass Menschen sich gerade dann als Menschen erkennen und anerkennen, wenn sie sehen, welche Belastung jeder hat.

 

Jesaja kündigt es an, Christus ruft alle zu sich, zu Gott und seiner Liebe. Er schenkt allen, auch uns, den Trost und die Gewissheit, Erleichterung zu erfahren.

 

Damit die Herzen fest und nicht hart werden und unsere Seelen Ruhe finden können. Denn: Gottes Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.

 

Feste Herzen und ruhige Seelen wünsche ich uns allen für das kommende Jahr 2019.


 

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