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Wach bleiben
Text lesen Markus 13,31–37
Wach sein. Lauschen, horchen auf das kleinste Geräusch. Verändert sich der Atem? Muss ich etwas tun? Werde ich gebraucht? Bald ist schon wieder Zeit für die nächste Medikamentengabe.
Wachen an einem Kranken- und Sterbebett kostet Kraft.
Ihr, die ihr Angehörige daheim gepflegt habt, wisst es aus eigener Erfahrung. Und Ihr kennt auch die Angst, etwas zu verpassen und in einem entscheidenden Moment nicht da zu sein. Viele trauen sich deshalb kaum noch aus dem Haus zu gehen, zum Einkaufen z.B.
Wach sein.
Die Gedanken drehen sich im Kreis. Der Schlaf will nicht kommen, nur die immer gleichen Fragen. Habe ich etwas übersehen? Hätte ich mehr tun können? Aufmerksamer sein müssen?
Wer nach dem Tod eines geliebten Menschen plötzlich allein ist, findet oft keinen Schlaf. Schlafen täte jetzt gut, schlafen und vergessen, für ein paar Stunden den Schmerz, die Trauer und Verzweiflung nicht spüren. Schlafen und ausruhen und am liebsten selbst nicht wieder aufwachen, so sagen es viele im ersten Schmerz.
Aber das Leben geht weiter. Nur – wie kann es nun weitergehen, ohne den geliebten Menschen?
Was bleibt mir denn noch?
Vor dieser Frage „Was bleibt uns denn noch?“ werden auch die Jünger Jesu bald stehen, an die sich Jesus mit seiner Rede richtet.
Es sind Abschiedsworte und Bilder, die er ihnen mit auf den Weg gibt bei diesem Zusammensein kurz vor seinem Tod.
„Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.“ Mitten im Vergänglichen leuchtet etwas Unvergängliches auf. Er erinnert sie an die Gespräche, die sie geführt haben, an seine Botschaft, die auch ihr Auftrag ist.
Wenn der Himmel einzustürzen scheint und einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, weil der Tod eines geliebten Menschen das eigene Leben in den Grundfesten erschüttert, gilt das Versprechen, das Jesus schon seinen Jüngern in ihrer Trauer nach seinem Tod mit auf den Weg gegeben hat: „Ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt.“ Ihr seid nicht allein mit eurer Trauer und eurer Verzweiflung.
Mitten im Vergänglichen etwas Unvergängliches aufleuchten zu sehen, das gelingt, wenn auch das Zweite gehört wird, was Jesus sagt – mehr noch, was er den Zuhörenden eindringlich einschärft, gleich vier Mal: Bleibt wach!
Nicht im Sinne von ständiger Alarmbereitschaft, sondern bleibt wach für das Leben. Bleibt aufmerksam für euer eigenes Leben und für das Leben eurer Mitmenschen. Nehmt sie wahr, die Lebenszeichen, die sie euch schenken. Hört die Worte, die sie euch sagen. Vielleicht ist genau das eine dabei, das mitten ins Herz trifft, das euch tröstet und neue Hoffnung schenkt. Ein Wort ewigen Lebens.
Bleibt wach, weil ihr noch eine Aufgabe habt im Leben. Dafür steht das Bild vom Haus. Jede und jeder hat darin eine Aufgabe.
Wach sein, um unser Lebenshaus verantwortlich zu gestalten, das heißt nichts anderes, als mit wachen Sinnen zu leben. Jeden Tag bewusst leben und erleben. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden“, so heißt es in einem Psalm.
Im Alltag mit viel Routine und viel Stress ist es nicht immer einfach, so klug und bewusst zu leben. Es schleichen sich Gewohnheiten ein, man nimmt vieles als selbstverständlich hin und ist wenig aufmerksam, bis eine Störung die Routine plötzlich unterbricht. Eigene Krankheit, ein Unfall, ein Todesfall sind manchmal wie ein Weckruf, der uns neu bewusst werden lässt, wie wenig selbstverständlich das Gewohnte ist.
Oft lässt gerade die Nähe des Todes - Menschen in neuer Weise wach sein. Kleine Freuden, Alltägliches, werden zum großen Geschenk. Ein Spaziergang. Der Duft von Rosen. Der Geschmack von frischen Kirschen.
Aber wenn dann der Abschied gekommen ist, ist es oft schwer, sich an irgendetwas zu freuen. Das Wach-Sein ist mühsam, weil es so wehtut, die Lücke wahrzunehmen. Denn Wach-Sein bedeutet, auch den Schmerz bewusst wahrzunehmen. Auch wenn man ihn am liebsten betäuben und vergessen möchte. Aber Trauer und Schmerz gehören zum Leben, sie lassen sich nicht für immer ausblenden.
Früher öfter, heute seltener halten Angehörige und Freunde für ihre Verstorbenen die Totenwache. Sie stellen sich mit diesem Wachen bei ihren Toten bewusst der Trauer. Sie verabschieden sie aus dem Haus des gemeinsamen Lebens.
Nach dem Wachen freilich, nach langen Wochen, Monaten und mitunter Jahren ständiger Bereitschaft fordert freilich auch das Ausruhen sein Recht. Ein Schlaf der Erschöpfung zuerst, der erst allmählich wieder zu einem Schlaf wird, der neue Kräfte wachsen lässt.
Dass alle immer in Bereitschaft stehen müssten, davon sagt auch Jesus nichts. In seinem Bild vom Haus erzählt er vom Türhüter, der das Wachen übernimmt für die, die ausruhen müssen und Schlaf brauchen und denen es guttut, sich endlich mal um nichts mehr kümmern zu müssen.
Gemeindeglieder, Nachbarn und Freundinnen und die eigenen Kinder können solche wachenden Türhüter sein, die für die Trauernden da sind und sich um sie kümmern. Der eine bringt eine warme Suppe vorbei, die andere erledigt den Papierkram, der nächste geht Einkaufen. Die Freundin bleibt immer mal wieder über Nacht in den ersten Wochen.
Allmählich kann so die Seele wieder zu neuem Leben erwachen und der Geist wieder munter werden. Erholt nach dem Schlaf, können die Trauernden an die Arbeit zurückkehren und ihre Aufgaben im gemeinsamen Haus nach und nach wieder übernehmen. Denn da sind ja noch die anderen, die sie brauchen. Kinder, Enkel, Kolleginnen, die nahen und die fernen Nächsten.
Die ganze Erde ist das gemeinsame Haus aller Menschen, und es gehört zum Wach-Sein, auch das immer wieder bewusst wahrzunehmen. Jede und jeder von uns ist verantwortlich für dieses gemeinsame Haus, jede und jeder hat auch darin eine Aufgabe. Der bewusste Umgang mit Natur und Umwelt, Hilfsbereitschaft, ob unter Nachbarn, am Ort oder weltweit, politisches oder soziales Engagement, das alles ist Wach-Sein. Und es kann ein Weckruf sein, der auch andere wachrüttelt und neu aufmerksam macht für das kostbare und zerbrechliche Leben, das uns geschenkt ist. Wir sollen es nicht verschlafen, sondern wach und mit allen Sinnen und allen Fasern unseres Herzens leben.
Amen