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1. Advent Predigt gehalten von Bischöfin Springhardt
Liebe Gemeinde,
manchmal, wenn ich in einem Buch oder einer Zeitschrift etwas finde, das ich mir merken will, knicke ich die oberste Ecke um und mache ein Eselsohr ins Buch. Bei besonders kostbaren Büchern – oder bei ausgeliehenen – verkneife ich mir das natürlich. Aber bei denen, die ich für den Alltag nutze, da kommt schon mal ein Eselsohr hinein. Früher durfte ich sowas nicht. Wehe die Schulbücher bekamen Eselsohren oder auch nur Eselsöhrchen!
Heute mache ich das dann und wann: ein Eselsohr, um zu markieren: hier musst Du mal wieder hinblättern, das musst Du Dir merken. Und manchmal passiert es, dass ich nach langer Zeit ein Buch wieder in die Hand nehme und über ein solches Eselsohr stolpere.
An den ersten Advent müsste man auch ein Eselsohr machen, um zu markieren: hier steht etwas ganz Wichtiges: Jesus kommt. Er wird kommen – er zieht ein in unsere Welt.
Das Eselsohr vom 1. Advent erinnert uns an diese Verheißung. Jesus wird kommen – am Ende der Tage. Darauf warten wir. Deswegen ist eigentlich immer Advent. Nicht nur im Dezember.
Aber an den Adventssonntagen wird die Sehnsucht nach dem Geheimnis von Gottes Kommen in die Welt handgreiflich und spürbar. Die Nacht und die Dunkelheiten dieser Welt sind schon fortgeschritten und vorgedrungen, der Tag und das Kommen Gottes ist nicht mehr fern. In der Adventszeit warten wir auf die Erlösung und den Erlöser. Unsere Sehnsucht nach dem Leben in Fülle für alle, nach umfassendem Frieden, nach wahrhaft besseren Zeiten bekommt eine Richtung. Wir öffnen die Türen unserer Herzen und sehen das, was wir sehnen – so wie ihr Konfis es uns gerade mit euren Türen zu euren Traumhäusern gezeigt haben.
Im Advent werden wir eine große Hoffnungs- und Sehnsuchtsgemeinschaft. Wir reihen uns ein in die Trauben von Menschen, die am Straßenrand stehen und auf den König der Ehren warten. Irgendwann muss er doch kommen!
Und während sie noch warten, bereitet Jesus längst seinen Einzug vor.
Der Evangelist Matthäus berichtet davon in Kapitel 21, 1-9:
Von langer Hand vorbereitete, festliche Einzüge kommen in unseren Tagen nur noch bei Filmfestivals und glamourösen Preisverleihungen an Stars und Sternchen vor. Dann stehen Menschen oft den ganzen Tag über am roten Teppich, um darauf zu warten, ihren Lieblingsschauspieler zu sehen und ihm zuzujubeln. Statt Trommelwirbel begleitet die schreitenden Grazien Blitzlichtgewitter. Ihre Macht ist keine politische, und Befreiung erhofft sich von ihnen wohl auch niemand. Ein roter Teppich scheint eine Sogwirkung zu haben. Wer kann, stellt sich mit hin und hofft auf gute Sicht. Wer nicht vor Ort ist, verfolgt die Ereignisse am Radio oder Fernseher.
Auch in Jerusalem gab es in jenen Tagen einen feierlichen und glamourösen Einzug. Zwar nicht auf einem roten Teppich – denn rote Teppiche gibt es erst seit dem Mittelalter. Aber voller Pracht und Prunk. Wie jedes Jahr kam der römische kaiserliche Statthalter Pontius Pilatus aus Caesarea Maritima, seiner Residenz am Meer nach Jerusalem, um dort seinen alljährlichen Einzug zu halten.
Es war ein Einzug mit Kolonnen von Pferden und Männern in Leder und Eisen. Es gab Fahnen und Posaunen. Das gesamte römische kaiserliche Aufgebot an militärischer Macht trat auf. Genau das war der Sinn der Sache. In Jerusalem war die Brutstätte so mancher Aufstände gegen die römischen Machthaber. Hier sollten sie mit eigenen Augen sehen, dass die gesamte militärische Macht bereit war. Die Menschen sollten sehen und begreifen, dass jede Form des Widerstandes hoffnungslos war. Abschreckung und Machtdemonstration – das gehört seit jeher zum militärischen Muskelspiel. Daran hat sich nichts geändert bis heute.
Die Menschen in Jerusalem standen da und schauten. Manche stumm, andere verdutzt oder beeindruckt von dem kolossalen Machtaufgebot. Sicher auch mit insgeheim geballten Fäusten, zornig über ihre Ohnmacht angesichts dieser hoffnungslosen Besatzung durch die Römer. Schon fast 70 Jahre lang hatten sie das jüdische Volk geplagt und ausgebeutet, und saßen jetzt fester denn je im Sattel. Und zu allem Überfluss dann noch der sadistische Statthalter Pontius Pilatus, der den Tempelplatz durch seine willkürlichen Gemetzel an
unschuldigen Menschen in ein Schlachthaus verwandelt hatte. Genau dort erschien er hoch zu Ross in seiner golden schimmernden Rüstung, mit federgeschmücktem Helm und rotem Umhang. Schnittig, siegreich, unbesiegbar... Dieser Einzug geschah am Westtor, wo der Weg von Caesarea nach Jerusalem ging.
Auf der anderen Seite der Stadt, am Osttor, wo der Weg von Norden her in die Stadt führt, gab es an jenem sonnigen Frühjahrstag noch einen anderen Einzug. Dieser Einzug weckte in vielen jüdischen Herzen unter Bauern und Sklaven und anderen kleinen Leuten aus der ärmsten Bevölkerung eine schwache Hoffnung. Ein Prophet aus Galiläa hatte seinen eigenen Einzug genau auf diesen Tag gelegt. Und was für einen Einzug, verglichen mit dem römischen am anderen Ende der Stadt!
Dieser merkwürdige und bemerkenswerte Mann hielt seinen Einzug in die Stadt völlig allein, auf einem Esel reitend. Genauso wie es einst der Prophet Sacharja geweissagt hatte: Siehe, dein wahrer König kommt zu dir, sanftmütig und reitet auf einem Esel. Völlig ruhig und unaufgeregt, mit dieser inneren Ruhe und Gelassenheit, die beeindruckender ist als jedes Imponiergehabe, unerschütterlich und entschlossen sitzt er auf seinem Esel. In einem einfachen Gewand, ohne alle Pracht, geschweige denn Waffen. Er sitzt da auf der Eselin, von der Sacharja gesprochen hatte. Damit leugnet er direkt jegliche Bedeutung jenes anderen Einzugs in Jerusalem.
Das ist kein lauter und tosender Kampf der Systeme. Keine Eskalation der Gewalt, wie wir sie seit Monaten in der Ukraine beobachten müssen. Keine Militärparaden wie in Peking und Nordkorea. Nein, schlicht und einfach zieht er ein, der König der Ehren. Nicht auf dem hohen Ross und Kriegspferd, sondern auf einer Eselin. So wie Sacharja es geweissagt hatte. Auch der Jubel der Menge erscheint in schlichtem Kleid, spontan und ehrlich. Nicht organisierte Claqueure. Sie streuen ihm Palmzweige auf den Weg und legen ihre Kleider hin. Statt des roten Teppichs mit Glamour ein Weg auf dem gelegt wird, was den Menschen am nächsten ist, bunte Kleider – so bunt und vielfältig, wie die sind, die auf diesen ganz anderen König warten.
Am ersten Advent stehen auch wir mit am Wegesrand. Wir stimmen in den Jubel der Menschen in Jerusalem ein. Wir singen mit ihnen: Tochter Zion, freue dich – dein König kommt zu dir. Hosianna, sei gegrüßt, du Sohn Davids!
Auch unsere Hoffnungen bekommen einen Namen. Das, was uns die Hoffnung schwer macht, wird nicht das letzte Wort haben. Auf lange Sicht nicht. Aber noch sind wir nicht da. Mit dem Einzug Jesu in Jerusalem ist das ersehnte Friedensreich noch nicht angebrochen. Wir warten noch immer darauf. Nur wenige Tage später ist in Jerusalem das „Hosianna“ verhallt – und man hört die Menge rufen: „Kreuzige ihn!“.
Die Adventszeit und die Passionszeit gehören aufs Engste zusammen. Das Kind in der Krippe und der Mann am Kreuz gehören zusammen. Gott wird Mensch, mit allen Konsequenzen.
Menschlichkeit zieht ein in unsere Welt – und zugleich kommt ans Licht, welch armseligen Gestalten wir Menschen doch bisweilen sind. Wir sehnen uns nach einer gerechten Welt und nach Frieden – und es gelingt uns nicht einmal in unserem überschaubaren Bereich, friedlich und mit offenem Blicken zusammen zu leben. Wir rufen heute Hosianna und morgen: Kreuzige ihn! Manchmal nur leise in uns, aber die Stimme ist da.
So schlicht wie die Adventszeit ist, so nüchtern ist diese Erkenntnis. Traditionellerweise ist die Adventszeit – wie die Passionszeit – eine Zeit der Buße und der Vorbereitung. Nur die wenigsten von uns werden in der Adventszeit fasten, aber bestimmtes Gebäck muss bei manchen doch noch bis Weihnachten warten. Die Adventszeit ist eine Zeit der Besinnung auf das Wesentliche und eine Zeit der geheimnisvollen Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest und das Kommen Gottes in die Welt. Es ist auch die Zeit, in der das Schlichte noch eine Chance hat. In den Vorbereitungen liegt schon der Zauber und die Vorfreude auf das, was kommt. Das war beim Christkindlsmarkt gestern so, das ist bei den Vorbereitungen auf Weihnachten so und noch viel mehr mit Blick auf das Ziel unserer Hoffnungen, wenn sich die Tore zu dem öffnen, was uns verheißen ist.
Für mich wird das besonders deutlich am Adventskranz. Allem Geglitzer und bunten Beleuchtungen zum Trotz ist er mit seinen Kerzen das Zeichen für diese Zeit. Fast überall sonst müssen die Wachskerzen den elektrischen Kerzen weichen. Weils praktischer ist. Und sicherer. Weil es besser in unsere Zeit passt, wo auch die Weihnachtsbeleuchtung dauerhaft leuchtet, nebenbei. Als Untermalung.
Nur vom Adventskranz lassen sie sich nicht vertreiben. Dort kommt niemand auf die Idee, die Wachskerzen zu ersetzen. Er spricht eine andere Sprache. Nicht um Untermalung geht es, sondern um Unterbrechung. Wenigstens ein paar Minuten am Tag eine Kerze anzünden, die Gedanken vorüberziehen lassen und offen werden für das Neue, das kommt. Sich offen halten für den lebendigen Gott, an den uns das Grün der Zweige erinnert. Die Kerzen entschleunigen das Leben, sie vertragen keine Hektik. Wo es hektisch zugeht, gehen die Kerzen aus oder fallen um.
Das ewige Hamsterrad des Alltags wird im Advent unterbrochen – durch den Einfall des göttlichen Lichtes in unsere Zeit. Durch das Warten und die Sehnsucht, die mich in dieser Zeit jedes Jahr neu ergreift, durch das Ziel, auf das wir zugehen: die Verheißung, dass Gott Mensch wird, dass er sich uns zuwendet und einzieht in diese Welt. Schlicht, in einem armseligen Stall und auf einer einfachen Eselin. Ohne Punk und Pracht, ohne Glitzer und Glamour. Still und leise. An diese Verheißung erinnert uns der erste Advent.
Machen wir uns ein Eselsohr an diesen Tag und an diese Verheißung, dass wir sie nicht vergessen. Und dass wir bereit werden, ihn zu empfangen.
Ein Eselsohr an diesen Tag, an dem uns verheißen ist: die Nacht ist vorgedrungen – der Tag ist nicht mehr fern. So zieht er ein: der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus. Amen