( Matthäus 27,33-54 ) - [ English ]
Warst du da, als sie meinen Herrn kreuzigten?
O, manchmal macht es mich zittern.
Warst du da, als sie meinen Herrn kreuzigten?
Warst du da, als sie ihn ins Grab legten?
Viele waren da, erzählt Matthäus. Wie am Ende eines Theaterstücks bringt er bei Jesu Kreuzigung noch einmal alle Akteure zusammen, die Jesu Weg begleitet haben. Freunde und Feinde, Menschen, die ganz nah dran waren und andere, die eher aus der Ferne zugeschaut haben. Aktiv beteiligt die einen, passiv und abwartend die anderen. Politiker und Geistliche und einfaches Volk. Alle versammeln sich unter dem Kreuz, um das Kreuz, mal nah, mal fern.
Matthäus 27,31-32
31Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen.
32Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug.
Nicole: Da sind sie, die ihn quälen: Soldaten, Handlanger von denen, die sich die Hände nicht schmutzig machen wollen. Sie haben Jesus ganz klein gemacht, gefoltert, gedemütigt. Jetzt führen sie ihn zur Hinrichtung. Und weil sie zeigen wollen, WIE mächtig sie sind, suchen sie sich noch einen Handlanger, einen, den sie zwingen, das Kreuz zu tragen. Ungewollt wird er in ihre Taten hineingezogen.
Römische Soldaten sind es hier. Aber in das Bild mischen sich die Gesichter von Soldaten aller Zeiten, manche davon kennen die einen aus eigener Erfahrung, die anderen von Fotos, von Fernsehbildern aus der Ukraine und dem Gazastreifen.
Warst du da, als sie meinen Herrn kreuzigten?
Vers 33-37
33Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,
34gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.
35Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.
36Und sie saßen da und bewachten ihn.
37Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Nicole: Pontius Pilatus, der Jesus den Soldaten übergeben hat, ist nicht selber da. Er hat seinen Job erledigt. Von seinem Mitwirken erzählt hier auf Golgatha nur das Schild, das sie über Jesu Kreuz hängen. Seine Straftat gegen ihn hat Pilatus darauf schreiben lassen: dies ist Jesus, der Juden König. Das ist Anklage und Erniedrigung zugleich. Was bildet sich dieser Jesus ein? Und was für ein lächerlicher König ist er? Ein König am Kreuz. Ein Witz.
Auch das Bild von Pilatus vermischt sich mit den Bildern anderer Machthaber aller Zeiten. Zu den ganz Großen und Mächtigen gehört er nicht, er ist einer aus der zweiten oder dritten Reihe, aber doch mächtig genug, um sich wichtig zu fühlen, und wichtig genug, um sich mächtig zu fühlen. Einer, der es am liebsten allen recht machen will, den Vorgesetzten in Rom, die Ruhe wollen in der Provinz Judäa, den judäischen Politikern und Geistlichen und auch dem Volk selber, das er bei Laune halten muss, wenn es Ruhe geben soll. Und hat er nun nicht die beste Lösung gefunden? Eine schlaue Idee, das Volk entscheiden zu lassen. Barrabas oder Jesus, das Volk hat selbst entschieden. Er kann also seine Hände getrost in Unschuld waschen. Auch wenn ihm nicht ganz wohl dabei ist.
Einen Untersuchungsausschuss hat es seinerzeit nicht gegeben. Wenn die Sache erst mal überstanden ist, kommt wieder das normale Alltagsgeschäft. Und die ganze Aufregung ist bald vergessen.
Warst du da, als sie meinen Herrn kreuzigten?
V 38-40
38Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
39Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe
40und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!
Nicole: Natürlich kommen sie, die Neugierigen, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollen. Viele von ihnen kennen Jesus, haben ihn gehört, gesehen, erlebt. Manchen waren skeptisch, andere begeistert, einige enttäuscht. Vielleicht waren manche von ihnen noch vor wenigen Tagen dabei, als er einzog in Jerusalem, haben mitgejubelt und Hosianna gerufen, die mutigsten Hoffnungen gehabt. Aber er hat ihre Hoffnungen enttäuscht. Er ist nicht der erwartete Heilsbringer geworden. Nun haben sie sich abgewandt. Einige spotten: „na komm schon, jetzt wäre der Zeitpunkt, zu beweisen, was du kannst.“
Die skeptisch waren, sehen sich bestätigt „Siehst du, ich hab`s doch schon immer gewusst. Das konnte ja nicht gut gehen.
Und dann gibt es noch viele, die sich ohnehin nicht groß um diese Dinge gekümmert haben – was verstehe ich schon von Politik und dem ganzen Kram, die da oben machen ja doch, was sie wollen. Sie sind einfach so mitgelaufen, war ja ganz interessant immer mal wieder, der ganze Rummel um Jesus. Aber letztlich war es so wichtig ja auch wieder nicht. So viel wird sich auch jetzt nicht ändern in ihrem Leben. „Gut, dass ich mich aus diesen Dingen immer rausgehalten habe! Warst du da, als sie meinen Herrn gekreuzigt haben?
V 41-43
41Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:
42Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben.
43Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
Nicole: Die andere Seite der Macht. Politik und Geistlichkeit im unseligen Zusammenspiel. Diese Männerrunde sitzt zufrieden beisammen. Sie hat ihr Ziel erreicht. Sie sind ihn los, der da ihre Kreise stören wollte. König von Israel. Gottes Sohn. Doppelte Anmaßung. Doppelte Lästerung. Der wollte ihnen Macht und Kompetenz streitig machen, besser wissen als sie, was Gottes Wille ist. Na bitte, das hat er jetzt davon. Mitleid ist von ihnen nicht zu erwarten. Ihnen geht es um ihre Macht. Sie wollen nicht an Einfluss verlieren. Und diejenigen, die im existierenden System gut verdienen und auch in Krisenzeiten gewinnen, sehen erst recht keinen Grund, etwas zu ändern. Warst du da, als sie meinen Herrn gekreuzigt haben?
V 44
44Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Nicole: Jesus, ein gewöhnlicher Verbrecher unter anderen gewöhnlichen Verbrechen. Auch das haben sich die Machthaber gut überlegt. Alle Anhänger Jesu sollen es sehen: das passiert mit denen, die sich gegen die Herrschenden stellen. Alle, die die Ruhe und Ordnung stören.
Und die Verbrecher selber? Nein, hier gibt es keine Bekehrung in letzter Minute wie bei Lukas. Nur zusätzlichen Spott, gemischt mit Schadenfreude: siehst du, du bist auch nicht besser dran als wir. Du bist nichts Besseres. Matthäus beschönigt nichts. Das Böse bleibt böse. Das Gute bleibt ohnmächtig. Wie wir es auch erleben, in all den hilflosen Versuchen, zunehmende Gewalt zu stoppen, die soziale Verwahrlosung. Eltern gegen Kinder, Jugendliche gegeneinander, Einheimische gegen Fremde. Warst du da, als sie meinen Herrn gekreuzigt haben?
V 45-50
45Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.
46Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
47Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.
48Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.
49Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
50Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Nicole: auch unter den hartgesottenen Gaffern und abgebrühten Soldaten gibt es noch den ein oder andern, der noch etwas Menschlichkeit und Mitgefühl zeigt. Der Todeskampf Jesu wird immer schlimmer, die Angst und Not des Sterbenden immer größer. Da hat einer Mitleid. Er will ihm wenigstens die Lippen befeuchten, einen Schluck zu trinken geben, eine kleine Linderung zuteil werden lassen. Ein letzter Dienst der Nächstenliebe. Aber die anderen lassen nicht einmal das zu. Ist doch selbst schuld an seinem Schicksal, der Mann. Sie sind ohne Gnade.
Mir kommen Szenen in den Kopf von Situationen, wo es diese typischen Mitläufer gibt, die sich nicht trauen jemandem zu helfen. Die vielleicht sogar noch als Sensation ihr handy zücken und die demütigende Szene filmen und ins Netz stellen. Und oft genug gehen Menschen an anderen vorbei, weil sie sich nicht einmischen wollen.
Warst du da, als sie meinen Herrn gekreuzigt haben?
V 51-56
51Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen,
52und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf
53und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
54Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!
55Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient;
56unter ihnen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.
Nicole: die Einzigen, die ihm bis zum Ende zur Seite stehen, sind die Frauen. Die Jünger in ihrer Angst sind längst auseinandergelaufen. Die Frauen sind da, nicht direkt unter dem Kreuz, sondern weiter weg, aber sie sind gekommen. Sie stehen von ferne, aber sie stehen ihm bei, sie sind ihm auch hierher gefolgt, wie sie ihm vorher gefolgt waren. Aber sie sind zur Ohnmacht verdammt. Ohnmächtig und hilflos, so fühlen wir uns, wenn wir Menschen leiden sehen. Schreckensbilder aus den Kriegsgebieten dieser Welt oder nach Naturkatastrophen. Wir stehen von ferne und sehen zu. Das ist das Schwerste: nichts tun können. Nichts mehr tun können. Nicht eingreifen dürfen. Nur von ferne zusehen. Am Krankenbett. Bei einem Sterbenden. Bei trauernden Menschen. Auch, wo sich einer selber zugrunde richtet, weil er in einer Sackgasse gelandet ist. Trotzdem dazubleiben, auszuhalten, nicht wegzulaufen, nicht vor dem Schmerz und dem Leiden und nicht vor der eigenen Ohnmacht, das verlangt Mut. Aber vor allem: Liebe. Mitgefühl. Barmherzigkeit.
Warst du da, als sie meinen Herrn gekreuzigt haben?
Diese Frage stellt uns dieser Karfreitag, stellt uns Matthäus mit seinem Passionsbericht. Wo finde ich mich wieder unter denen, die sich da am Kreuz versammeln, dieser Mischung aus Menschen wie du und ich, mit allen Stärken und Schwächen und Fehlern? Wie verhalte ich mich zu diesem Mann am Kreuz?
Und Matthäus erzählt uns, wer an diesem Kreuz hängt. Einer nämlich, der Mitleid hat mit allen, die sich da unter seinem Kreuz zusammenfinden. Den Opfern und Tätern, den Mitläufern und Spöttern, den Hilflosen und Ohnmächtigen.
Er selber ist hilflos und ohnmächtig. Er bleibt trotzdem da und hält aus. Er läuft nicht weg, steigt nicht herab vom Kreuz und sagt, nun lass aber mal gut sein. Er läuft nicht weg vor dem Schmerz und dem Leiden und nicht vor der eigenen Ohnmacht. Er schreit sie sogar heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er geht seinen Weg zu Ende. Aus Liebe. Er geht mit jedem von uns auch unsere Wege zu Ende. Er teilt unsere Schmerzen und unser Leid, auch unser Leiden an so viel Unheil in der Welt. Er teilt unsere Hilflosigkeit und Ohnmacht. Aus Liebe. Diese Liebe lässt uns leben. Trotz allem.